Enwor 1 - Der wandernde Wald
einer unsichtbaren Spannung erfüllt. Etwas wie eine Hand wollte sich bilden, zerfaserte und formte sich neu, verwehte wieder. Und plötzlich wußte Skar, daß dort vorne nicht das Leben, sondern der Tod wartete —nein, nicht der Tod, sondern etwas Schlimmeres, etwas viel Schlimmeres. Etwas, das sich seinem Vorstellungsvermögen so vollkommen entzog, wie sich dem Bewußtsein eines Blinden Farben verschließen mußten. Er versuchte stehenzubleiben, aber es ging nicht. Seine Beine bewegten sich ohne sein Zutun, als wäre er eine Puppe, an deren Fäden ein unsichtbarer, gnadenloser Spieler zog. Er schrie, aber wie in einer grausamen Umkehrung seines ersten Erlebnisses wurde der Laut von seinen Lippen gerissen und ins Nirgendwo gesogen. »Wehre dich, Skar! Kämpfe! Du darfst nicht dorthin gehen! Kämpfe! Ich helfe dir!«
Der Nebelschleier begann sich zu verdichten, wurde zu einem länglichen grauen Umriß. Ein menschlicher Körper schien sich bilden zu wollen, schmal, gebeugt, in ein knöchellanges graues Gewandgehüllt. Aber da war noch eine andere Kraft, etwas, das —ohne daß er hätte sagen können, wieso — mit jener schrecklichen präsenten Leere auf der schwarzen Ebene verwandt schien und ihn mit unbändiger Gewalt weiterzerrte. Er sah, wie sich die Gestalt zusammenkrümmte, wie unter einem fürchterlichen Hieb taumelte. Für einen Augenblick erkannte er ihr Gesicht, aber der Name entfiel ihm sofort wieder. »Lauf, Skar! LAUF!!!«
Er spürte, wie der Sog für Momente nachließ. Die Gestalt vor ihm taumelte. Ihr Gesicht verzerrte sich, und Skar begriff plötzlich, daß er einem phantastischen Kampf zusah, einer Auseinandersetzung zweier ebenso unverständlicher wie gewaltiger Kräfte. Ein dumpfer, hallender Laut vibrierte durch den Gang, der Ton eines gewaltigen höllischen Gongs, Gesang aus den Kehlen hunderter schwarzer Mönche, die unter ihren Kapuzen ein Totenlied anstimmten, der Wutschrei eines gigantischen schwarzen Gottes, herauf getragen aus den tiefsten Schlünden der Hölle.
»LAUF! SKAR! FLIEHE!!!«
Und Skar wandte sich um, drehte dem flackernden grauen Nichts am Ende des Stollens und der verkrümmten, stummen grauen Gestalt den Rücken zu und lief, lief, lief, lief…
Nicht reden jetzt«, sagte eine Stimme. Skar bäumte sich auf, versuchte hochzukommen und sank mit einem kraftlosen Stöhnen wieder zurück. Für einen Moment begann sich der Raum um
ihn
herum zu drehen, dann verzog sich das Bild vor seinen Augen, als betrachte er es durch einen Zerrspiegel.
»Bleib liegen«, sagte Coar. »Du mußt noch einen Augenblick Geduld haben. Die Schwäche vergeht von selbst.«
Er nickte, schloß die Augen und tastete blind nach ihrer Hand. Sie zuckte unter seiner Berührung zusammen, und für einen Augenblick wurde ihr Gesicht hart und abweisend, als hätte er eine ekelhafte Krankheit, so daß sie seine Berührung nur mit Widerwillen ertrug. Er zog die Hand zurück, befeuchtete die Lippen mit der Zunge und stemmte sich noch einmal hoch. Es ging, wenn auch mühsam. »Was…«, sagte er stockend, »ist passiert?« Er erinnerte sich an nichts. Sie waren von Ipcearn gekommen und auf diese Lichtung hinausgeritten, und dann… dann… irgend etwas war mit dem Reiter neben
ihm
geschehen, etwas Schreckliches und Grauenhaftes, aber er konnte sich nicht mehr genau besinnen, was. Für eine halbe Sekunde stieg das Abbild einer gewaltigen, schwarzpolierten Ebene vor seinem inneren Auge empor, aber mit jedem Atemzug, den er tat, verblaßten die Erinnerungen mehr, vermischten sich Traum und Realität, bis er nicht mehr wußte, was er geträumt und was wirklich erlebt hatte.
»Du bist in ein Khtaäm-Nest geraten«, sagte Coar nach kurzem Zögern. »Du erinnerst dich nicht?«
Skar schüttelte den Kopf, nickte und schüttelte dann noch einmal den Kopf. Er erinnerte sich, aber er erinnerte sich auch nicht. Etwas schien in seinem Kopf durcheinandergeraten zu sein. Schwarzer Wald, der übergangslos in dunkle, wie Glas schimmernde Wüste überging… eine dunkle Woge aus dürren Spinnenbeinen und Fangarmen und giftigen Stacheln… Schmerzen… die gellenden Schreie des Gardisten… Er stöhnte, fuhr sich mit der Hand über die Augen und versuchte verzweifelt, Traum und Erlebtes zu trennen, aber es ging nicht.
»Der… der Mann«, sagte er mühsam. »Was ist mit ihm?«
»Er ist tot«, antwortete Coar ruhig. »Wer von einem Khtaäm angefallen wird, ist rettungslos verloren. Er war schon tot, als du zu ihm
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