Enwor 1 - Der wandernde Wald
grob in die Höhe riß, erwachte er aus seiner Erstarrung. »Skar, zum Teufel noch mal — was ist los?« schnappte Del. Sie hatten das Ende des Stollens erreicht und befanden sich in einer vielleicht zwanzig Meter durchmessenden, unregelmäßig geformten Höhle. Irgendwo in ihrer Nähe rauschte Wasser, und der Boden war fast knöcheltief mit Schlamm und Morast bedeckt. Es war kalt.
»Ich… nichts«, murmelte Skar schwach. Er schob Dels Hand beiseite und trat einen Schritt zurück. »Es ist nichts.«
»Nichts?« Del runzelte zweifelnd die Stirn und starrte ihn sekundenlang durchdringend an. »Du siehst aus, als wärst du einem Gespenst begegnet«, behauptete er ernsthaft.
Skar schüttelte den Kopf. »Es ist… nichts«, sagte er noch einmal. Aber er spürte selbst, wie wenig überzeugend seine Worte klangen. »Ich möchte nicht darüber reden, wenigstens jetzt noch nicht«, sagte er hastig. »Wo sind wir?«
Del zuckte mit den Achseln und drehte sich wortlos um. Coar hatte ihre Fackel wieder entzündet und stand unschlüssig in der Mitte des großen, leeren Gewölbes. Ihr ehemals brauner Mantel war mit Sc
hlamm
und dünnen Fäden einer schwarzen, schleimigen Masse besudelt. Skar sah an sich herab und registrierte angeekelt, daß auch er das Zeug an Kleidern und Händen hatte. Er zuckte zusammen, wischte sich hastig die Hände an den Hosenbeinen ab und fuhr sich mit den Fingern durch Gesicht und Haar.
»Dort drüben ist ein Ausgang«, sagte Del. Skars Blick folgte seiner Geste. An der gegenüberliegenden Wand der Höhle, beinahe in geradliniger Verlängerung des Stollens, aus dem sie gekommen waren, befand sich der Durchgang zu einer weiteren Höhle, höher und breiter als der Gang, aus dem sie gekommen waren, und —das erste Mal, seit sie dieses irrsinnige Labyrinth betreten hatten —aus Fels.
»Sag mal«, sagte Del nachdenklich, »habe ich schon Halluzinationen, oder hörst du es auch?«
»Das Wasser?« Skar nickte und deutete mit einer Kopfbewegung auf das niedrige Felsentor. »Es scheint von dort zu kommen.« Er machte einen Schritt, zögerte und zog sein Schwert aus dem Gürtel, ehe er weiterging. Er durchquerte die Höhle, blieb stehen und legte die Handfläche auf die zerfurchte Steinwand. Sie vibrierte. Und sie war feucht.
»Licht!« verlangte er. Einer der Krieger reichte
ihm
eine brennende Fackel. Der Mann wollte an
ihm
vorbei in den Stollen eindringen, aber Skar hielt ihn mit einem raschen Griff zurück.
»Wir sollten jetzt vorsichtig sein«, warnte er. »Ich glaube, wir sind fast am Ziel. Del
- komm mit.« Er wartete, bis der junge Satai eine zweite Fackel entzündet hatte und neben ihn getreten war, dann drang er gebückt und mit vorsichtigen Schritten in den Stollen ein. Der Gang war nur etwa dreißig Schritte lang. Das Licht 'ihrer Fackeln verlor sich plötzlich im Nichts, als sie aus dem Tunnel heraus und in eine gewaltige, hallende Höhle traten. Es wurde spürbar kälter, und ein feuchter, böiger Luftzug ließ sie frösteln.
Skar blieb stehen, deutete mit einer Kopfbewegung auf den Boden und ging dann langsamer weiter. Der Fels brach wenige Schritte vor ihnen in einer messerscharf gezogenen Linie ab und verschwand im Nichts. Skar drehte sich einmal um seine Achse und hielt die Fackel höher, um mehr Einzelheiten erkennen zu können. Sie befanden sich auf einem nur wenige Schritte breiten, steinernen Sims, der wie ein natürlicher Balkon über einen bodenlosen, schwarzen Abgrund hinausragte.
Und von unten, von irgendwo aus der absoluten Schwärze unter ihnen, drang das Rauschen eines mächtigen Flusses zu ihnen herauf.
Lange, endlos lange standen sie wie gelähmt da und starrten in das schwarze Nichts zu ihren Füßen hinab. Schließlich, nach einer Ewigkeit, brach Del das Schweigen.
»Weißt du, Skar«, sagte er halblaut, »ich habe mich schon die ganze Zeit über gefragt, woher dieser verdammte Wald sein Wasser nimmt. Jetzt wissen wir es.« Hinter ihnen begann Coar leise und hysterisch zu lachen.
Es dauerte lange, bis Skar der sonderbare Unterton in Coars Stimme auffiel. Sie lachte, aber es war ein schmerzhaftes, von krampfhaften Schluchzern und mühsamen, würgenden Geräuschen unterbrochenes Lachen, und als er sich herumdrehte und auf sie zuging, sah er, daß ihr Gesicht verzerrt war und Tränen über ihre Wangen rannen. Er berührte sie zaghaft an der Schulter, aber sie schlug seine Hand zur Seite und fuhr mit einer so abrupten Bewegung herum, daß er erschrocken
Weitere Kostenlose Bücher