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Enwor 1 - Der wandernde Wald

Enwor 1 - Der wandernde Wald

Titel: Enwor 1 - Der wandernde Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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zurückprallte. »Coar«, murmelte er leise, »was… was ist los?«
    Sie antwortete nicht, aber ihr Lachen klang plötzlich schriller und ging allmählich in ein hysterisches Kreischen über. Skar wollte erneut nach ihrer Schulter greifen, aber seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung, als er den Ausdruck auf ihrem Gesicht gewahrte. Mit einem Mal fühlte er sich furchtbar hilflos.
    »Laß sie, Skar«, murmelte Bernec hinter ihm. Auch seine Stimme zitterte. Er schien Mühe zu haben, die Worte überhaupt hervorzubringen.
    Skar ließ die Arme sinken und drehte sich um. Bernec war, ohne daß er es bemerkt hätte, an ihm vorbeigegangen und dicht vor der Felskante stehengeblieben. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen, und die rechte Hälfte seines Gesichtes wurde vom flackernden roten Licht von Dels Fackel rot und gelb erleuchtet, während die Linke im Dunkel lag; verborgen hinter einer messerscharfen Trennlinie zwischen Licht und Schatten. Zum ersten Mal, seit Skar den jungen Krieger getroffen hatte, sah er ihn wirklich so, wie er war — es gab zwei Bernecs, das begriff er jetzt. Die Hälfte, die er bis dahin gesehen hatte, der junge, ungeduldige, stolze Krieger, war nicht der wirkliche Bernec. Nicht der Mann, den Coar einmal geliebt und mit dem sie ein Kind bekommen hatte. Trotz des harten, blutigen Lichtes, das sein Gesicht wie einen Ausschnitt aus einem dräuenden Alptraum dem Dunkel entriß, wirkten seine Züge weich und verwundbar, beinahe sanft.
    »Laß sie«, sagte er noch einmal. »Sie… sie muß auf ihre Art damit fertig werden.« »Womit?« schnappte Skar. Seine Verwirrung verwandelte sich schlagartig in Zorn. »Verdammt — was ist hier überhaupt los? Dort unten fließt ein unterirdischer Fluß, aber das ist doch kein Grund…«
    »Es ist nicht irgendein Fluß«, murmelte Bernec. »Es ist der Koch. «
    »Und was ist daran so außergewöhnlich?« fragte Del. »Ich habe die ganze Zeit mit so etwas gerechnet. Cearn mag groß sein, aber lange nicht groß genug, um überhaupt ein eigenes Klima zu entwickeln.«
    »Umsonst«, murmelte Bernec, als hätte er Dels Worte überhaupt nicht gehört. »Es war alles umsonst. All die Jahre, alle Hoffnung, alles…« Er fuhr plötzlich herum, warf den Kopf in den Nacken und stieß einen gellenden Schrei voll unendlicher Verzweiflung aus. Seine Stimme brach sich irgendwo an der unsichtbaren Höhlendecke hoch über ihren Köpfen und wurde vom Rauschen und Gurgeln des Flusses aufgesogen. »Es ist der Koth, der verschwundene Fluß aus unseren Legenden. Und er fließt nach Westen! Nach Urc!!« Seine Stimme kippte um, wurde zu einem unverständlichen, mühsamen Schluchzen. Er wankte, brach in die Knie und schlug sich drei-, viermal hintereinander wuchtig mit den Fäusten vor die Schläfe. »Belogen«, murmelte er immer wieder. »Sie haben uns belogen. All die Jahre hindurch. Es war umsonst. Umsonst!«
    Del schien etwas sagen zu wollen, aber Skar brachte ihn mit einem raschen, warnenden Blick zum Verstummen. Bernecs Verhalten wirkte theatralisch und gekünstelt, und doch glaubte er zu verstehen, was in dem jungen Mann vorging. In ihm, in Coar und den anderen, die mit ihnen hier herunter gekommen waren. Sie waren in gerader Linie aus Cearn heraus nach Westen geritten, und nun trafen sie auf diesen Fluß. Der gleiche Fluß, der das gewaltige grüne Areal von Cearn mit Wasser versorgte, dessen Weg die unendlich langsame Wanderung des Waldes und seiner Bewohner vorausbestimmte, ein Fluß, der irgendwo in den Weiten Enwors entsprang und tief unter der Nonakesh hindurchfloß. Ein Fluß, dachte er noch einmal, und erst jetzt, beim zweiten Mal, wurde ihm die volle Tragweite des Gedankens klar, der die tödliche Unendlichkeit der Nonakesh umging, auf dem es möglich sein mugte, die Küste und Urc zu erreichen!!
    Wieder fühlte er sich hilflos, eine Hilflosigkeit, die mit Wut gemischt war und dadurch noch schlimmer wurde. Er begriff plötzlich, was Bernec gemeint hatte, als er sagte, man hätte sie belogen. Generation um Generation hatten die Herrscher Ipcearns die Geschiche ihres Volkes gelenkt, ihnen immer und immer wieder eingehämmert, daß es nur einen einzigen Weg gab, die Nonakesh zu durchqueren und das Gelobte Land ihrer Vorfahren zu erreichen. Aber sie mußten es gewußt haben, dachte er entsetzt. Cearn war ein durch und durch künstliches Gebilde. Jeder Baum, jeder Strauch, jeder Fußbreit Boden dieses gewaltigen wandernden Waldes war geplant. Wer immer den Gedanken an dieses

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