Enwor 1 - Der wandernde Wald
durch geduldiges Zureden und ein paar energische Rucke am Zaumzeug überhaupt zum Weitergehen zu bewegen. Das Tier hatte Angst. Panische Angst.
Coar ritt ein paar Schritte weit, hielt an und stieß einen knappen Befehl aus. Die Garde sprengte aus dem Wald hinaus und eine sanft abfallende, mit kniehohem Gras bewachsene Lichtung hinunter. Die Lichtung war groß — vielleicht hundert Schritte bis zum gegenüberliegenden Waldrand und nach rechts und links ohne sichtbare Begrenzung —, ehe eine lange, sanft geschwungene Schneise, die den Wald auf unbestimmbare Länge in zwei Hälften spaltete und eine Art natürlicher Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Bereichen des Waldes darstellte. Skar fiel auf, wie seltsam das Sternenlicht auf dem Gras schimmerte. Irgend-etwas schien mit den Farben nicht zu stimmen; eine Verschiebung in eine unbekannte, mit Worten kaum oder gar nicht zu erfassende Richtung, die ihre Umgebung gleichermaßen fremdartig wie faszinierend erscheinen ließ. Aber er war viel zu sehr damit beschäftigt, mit weit ausgreifenden Schritten hinter dem Pferd herzuhetzen, als daß er genauer auf seine Umgebung hätte achten können. Er spürte, daß er dieses mörderische Tempo nicht mehr lange durchhalten würde. Bei dem unbarmherzigen Voranpreschen der Pferde und mit gefesselten Händen, die von der straff gespannten Leine gnadenlos nach vorne gerissen wurden, genügte die kleinste Unebenheit, eine Wurzel oder ein im hohen Gras verborgener Ast, ihn stolpern und der Länge nach hinstürzen zu lassen. Und was dann geschah, wagte er sich nicht einmal vorzustellen.
Und fast, als wären seine Gedanken ein Stichwort gewesen, auf das ein grausames Schicksal nur gewartet hatte, kam Del in diesem Augenblick aus dem Takt und stolperte. In Skar krampfte sich etwas zusammen, als er sah, wie Del das Gleichgewicht verlor, von der straff gespannten Liane brutal nach vorne gerissen wurde und genau auf die verletzte Schulter prallte. Del schrie gepeinigt, bäumte sich noch einmal auf und versuchte auf die Füße zu kommen. Aber er wurde noch ein paar Meter weit mitgeschleift, ehe es dem Reiter gelang, sein Tier zum Stehen zu bringen.
Die straffe Marschordnung der Gruppe löste sich von einem zum anderen Augenblick auf. Erst Coars helle, befehlsgewohnte Stimme sorgte nach einigen Augenblicken wieder für Ruhe. Sie rief irgend etwas in ihrer dunklen, kehligen Sprache, worauf der Rest der Garde — außer ihr selbst und den beiden Reitern, an deren Sättel Del und Skar gefesselt waren — weiterpreschten und nach wenigen Sekunden am gegenüberliegenden Waldrand verschwanden.
Skar riß verzweifelt an seinen Fesseln, aber die Liane hielt. Mit aller Kraft warf er sich herum, ignorierte den grausamen Schmerz in seinen Handgelenken und Schultern und zerrte Pferd und Reiter Schritt für Schritt auf den reglos daliegenden Del zu.
»Warte!« Coar sprengte heran und durchtrennte mit einem blitzschnellen Säbelhieb seine Fesseln. Skar raffte sich auf und stolperte weiter auf Del zu. Coar sprengte neben ihm her und zügelte ihr Pferd. Das Tier schnaubte und tänzelte erregt. Die Ohren waren eng an den Schädel angelegt, und vor seinen Nüstern schimmerte flockiger Schweiß.
Der Säbel der jungen Gardeführerin blitzte ein zweites Mal auf und durchtrennte Dels Handfesseln. »Kannst du ihn tragen?« stieß sie hervor. Ihre Stimme bebte. Skar nickte wortlos. Er bückte sich, warf sich Dels reglosen Körper über die Schulter und sah Coar fragend an. Warmes, frisches Blut sickerte aus Dels Schulterwunde und lief an Skars Rükken hinab.
»Zum Waldrand! Rasch!« rief sie.
Ein heller, krächzender Schrei zerriß die Stille. Coar zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Ihr Kopf flog mit einem Ruck in den Nacken.
Skar sah ebenfalls auf. Zuerst gewahrte er nichts Ungewöhnliches, aber dann erkannte er den Grund für Coars Erregung. Über dem westlichen Ende der Lichtung war ein Schwarm riesiger formloser Schatten aufgetaucht. Sie waren noch zu hoch, als daß Skar ihre genauen Umrisse erkennen konnte, aber trotzdem erschien es ihm, als hafte ihnen irgend etwas Böses, Unheimliches und Bedrohliches an.
»Hoger!!« stieß Coar entsetzt hervor. Sekundenlang saß sie wie erstarrt da, dann fuhr sie mit einem Ruck herum. »Schnell!« keuchte sie. »Leg ihn über den Sattel!« Skar gehorchte, ohne zu zögern. Er wuchtete den schlaffen Körper in den Sattel, warf einen letzten, gehetzten Blick über die Schulter und rannte dann los.
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