Enwor 1 - Der wandernde Wald
der Mann in ihm, und trotzdem war es ein Gefühl ganz anderer Art.
Unsinn; dachte er verärgert. Du kannst sie nicht lieben. Sie ist eine Frau und erregt
dich, aber
das ist ganz natürlich, nach all der Zeit.
Aber Liebe… Er
wußte von Coar kaum mehr als ihren Namen. Wie konnte er sie da lieben?
»Natürlich habe ich mich gefragt, was dahinter liegt«, knüpfte Coar nach einer Weile an den Gedanken an. »Die Welt — Enwor, wie du sie nennst —, und natürlich habe ich mir gewünscht, sie zu sehen, aber diesen Wunsch hat wohl jeder von uns einmal verspürt. Du hältst uns für Gefangene, Skar, aber das stimmt nicht.
Was hat deine Welt zu bieten, das es in Cearn nicht gäbe?«
Skar wollte antworten, aber ein Blick auf die friedvolle, halb in Dämmerung versunkene Stadt unter sich ließ ihn verstummen. Was hätte er antworten sollen? Was gab es — ganz egal wo auf Enwor —, das es wert gewesen wäre, gegen die friedvolle Schönheit dieses Landes eingetauscht zu werden? Del und er waren auf dem Wege in den Krieg gewesen, als es sie in die Nonakesh verschlagen hatte, und es war nicht der erste Krieg in ihrem Leben. All die Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten, waren ein Hetzen von einer Auseinandersetzung zur anderen, von einer Gefahr zur nächsten gewesen, und er hatte schon vor vielen Jahren aufgehört, die Zahl der Kämpfe behalten zu wollen, die sie durchgestanden hatten. Natürlich war sein Leben nicht die Norm — Del und er waren Satai, Angehörige einer Kaste, deren Handwerk Krieg und Überleben waren. Aber er hatte diese Art zu leben nicht von ungefähr gewählt, nicht aus Lust am Töten oder am Krieg, sondern weil es in einer Welt wie Enwor die sicherste Art zu überleben war. In einer Welt, in der nur Gewalt zählte, überlebte der Stärkste.
Er seufzte, drehte sich um und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Was liegt dort?« fragte er.
»Wüste, Skar. So wie dort und dort und dort.« Coar deutete nacheinander in die übrigen drei Himmelsrichtungen und schwieg einen Moment. »Und irgendwo dahinter«, fuhr sie dann in einem Tonfall, der Skar unwillkürlich aufhorchen ließ, fort, »Urcaun.«
»Urcöun? Was ist das?«
»Unsere Heimat«, entgegnete Coar. »Die Heimat unserer Vorfahren. Und unsere, wenn sie auch keiner von uns je gesehen hat.«
»Cearn ist nicht… eure Heimat?« fragte Skar, nun vollends verwirrt.
»Nein.« Coar sah auf. In ihren Augen erschien ein seltsamer, wehmütiger Ausdruck, und ihre Stimme schien um mehrere Nuancen weicher, als sie fortfuhr: »Es wurde zu unserer Heimat, Skar, vor langer, langer Zeit. Vielleicht ist Heimat das falsche Wort. Exil wäre richtiger. So, wie sich unser Volk von einem Volk des Friedens zu einem Volk von Kriegern veränderte, so wurde aus einer winzigen Oase ein Wald und aus einem Wald Cearn.«
Skar war der Unterschied zwischen dem Wort Wald und Cearn nicht ganz klar, aber er hatte den Eindruck, daß er im Moment besser schwieg.
Coar machte eine unbewußte Kopfbewegung, die verriet, daß sie ihr Haar normalerweise offen trug und es gewohnt war, sich von Zeit zu Zeit eine widerspenstige Locke aus der Stirn zu schütteln. Ihre Hand löste sich vom Geländer und tastete in einer vertrauten Geste nach Skars Fingern. Erneut durchströmte ihn ein Gefühl tiefer Wärme und Zuneigung, zu stark diesmal, um es noch wegzuleugnen. Und trotzdem spürte er, daß sich Coar bei dieser Art von Vertrautheit nichts dachte. Die Art, in der sie nach seiner Hand gegriffen und sie genommen hatte, war zu natürlich und offen, um noch Platz für Heimlichkeiten zu haben. Vielleicht gab es bei den Cearnern kein Berührungstabu wie andernorts.
»Wir haben noch ein wenig Zeit«, sagte Coar, während sie langsam nebeneinander die schräge Rampe hinuntergingen. »Die Zeremonie beginnt erst, wenn die Sonne vollkommen untergegangen ist. Wenn es dich interessiert, dann erzähle ich dir die Geschichte unseres Volkes. Sie ist nicht lang. Nicht lang zu erzählen, zumindest.« Skar nickte stumm.
»Vor langer Zeit«, begann Coar, »lebte unser Volk nicht hier in der Wüste, sondern in Urc, einem Land voller Frieden und Reichtum und fröhlicher Menschen. Niemand kannte den Krieg, und das Land war reich genug, daß keiner Not leiden mußte. Unsere Hauptstadt war Urcöun — eine mächtige und stolze Burg mit Mauern, höher als die Wipfel Cearns und stärker als der stärkste Baum. Jahrhunderte um Jahrhunderte lebte das Volk von Urc im Schutze seiner mächtigen
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