Enwor 11 - Das elfte Buch
wissen aus eigener Anschauung mehr über den Werdegang, die Geburt und die Vernichtung ganzer Königreiche und Volksgruppen als irgendein anderer Mensch.
Und du wissen, was sie unterscheidet von einer solchen Gruppe wie die der Digger.«
»Was sollte schon mit diesem wirren Haufen los sein?«, fragte Skar gereizt. »Als ich noch in voller Blüte stand, gab es weit und breit keine Digger. Von allen Bewohnern Enwors bin ich wahrscheinlich derjenige, der die Geschichte der Digger am wenigsten kennt.«
»Siehst du«, sagte Kama triumphierend. »Er euch nicht kennen.«
»Und was soll das beweisen?«, fragte Esanna.
»Das beweist, dass nach meinem Abgang irgendjemand auf eine besonders schlaue Idee kam und mit ein paar Getreuen die Gemeinschaft der Digger gegründet hat: mit klar umrissenen Zielen und der Anweisung, wie die Idee weiter verbreitet werden sollte«, sagte Skar in einem Tonfall, der zeigte, wie sehr ihm dieses Gespräch auf die Nerven ging. »Aus dieser Keimzelle entwickelte sich schließlich eine mächtige Bewegung, die immer mehr Einfluss auf Enwor gewann.«
»Woher weißt du das?«, fragte Esanna überrascht.
»Weil das die übliche Art ist, wie Spinner ihre Ideen in die Welt hinaustragen«, murrte Skar. »Und wenn du es genau wissen willst: Auch die Satai sollen sich so in ihrer Gründungsphase verhalten haben — allerdings ist das schon ein paar Jährchen her.«
»Das klingt so, als würdest du neben den Diggern auch die Satai verachten.«
»Und wenn das so wäre?«, fragte Skar. »Würde es dich wundern?«
Esanna starrte ihn mit einer Mischung aus Trauer und Entsetzen an und nickte dann. »Aber ja«, sagte sie. »Du bist die Legende, die Leitfigur, fast ein Gott für die Satai. Wie kannst du es dann wagen…«
»Schlecht über die zu reden, die in meinem Namen morden und Machtpolitik treiben?«, fauchte Skar. »Ja, wie kann ich nur? Hast du denn nichts begriffen, Esanna?« Aber dann schüttelte er den Kopf und trat wütend ein paar Äste beiseite, die im hohen Bogen wegflogen und irgendwo im Nebel gegen einen Baum klatschten. »Ich tue dir Unrecht, verzeih«, fuhr er gefasster fort. »Du kannst sie nicht kennen, die dunklen Regeln der alles verschlingenden Macht.«
»Was meinst du damit?«, fragte Esanna stockend.
»Es ist wie eine wütende Krankheit, die selbst die Besten befällt«, sagte Skar bitter und dachte an Del. »Und wenn es sie erst einmal gepackt hält und sie Dinge tun lässt, die sie zuvor verachtet haben, werden sie dir noch hohnlachend ins Gesicht schreien, dass sie im Recht gewesen sind.« Esanna schwieg lange. Als sie dann den Kopf zu Skar wandte, waren ihre Augen voller Tränen. »Ist es dir auch so gegangen?«
»Was?«, fragte Skar fassungslos.
»Bist du auch der Macht erlegen, alter Mann? Hast du sie missbraucht, als du den Mantel des Hohen Satais getragen hast?«
Skar starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Ich verstehe… deine Frage nicht.«
»Doch. Du verstehst sie sehr gut.«
»Ich weiß nicht…«
»Ach nein.« Esannas Gesicht verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. »Du weißt wirklich nicht, was ich meine? Du hast dich selber noch nie gefragt, ob du deine Tochter nur deshalb verloren hast, weil du zu beschäftigt warst mit deinen… mit deinen
Machtspielchen,
statt dich zur Zeit um sie zu kümmern.«
»Ich… was soll das.« Skar verspürte plötzlich ein Flattern in der Brust. »Das bringt doch alles nichts. Außerdem geht es dich gar nichts an!«
Die letzten Worte hatte er fast geschrien. Der seelische Druck, der auf ihm lastete, seit er nackt an Land gekrochen war, kam wieder, jenes Wühlen im Gedärm und das Kribbeln in Armen und Beinen — und es wurde schlimmer. Er kämpfte dagegen an, wusste jedoch nicht, welches Kampfmittel er einsetzen sollte, da der Feind ihm unbekannt war.
Er kämpfte gegen die Verzerrung seines Mundes an und zwang einen möglichst gleichgültigen Ausdruck auf sein Gesicht.
»Mit den Diggern es haben noch eine Besonderheit«, sagte Kama. »Sie sind geschaffen worden als Werkzeug. Sie bauen Kaol ab.«
»Ja — und?«, fragte Esanna. »Was ist verkehrt daran? Kaol ist die Kraft, die alles zusammenhält. Kaol ist die Essenz des Lebens. Kaol ist das Rückgrat unserer Gemeinschaft.«
Es klang wie ein vor ewiger Zeit auswendig gelernter Text. Und das war er wahrscheinlich auch — das Glaubensbekenntnis, das die Gemeinschaft der Digger zusammenhielt und sie immer weiter vorantrieb bei ihrem Ziel, so viel Kaol
Weitere Kostenlose Bücher