Enwor 4 - Der steinerne Wolf
weiter.
Sie brauchten fast zehn Minuten, um die letzten dreißig Schritte zurückzulegen. Als der Gang schließlich endete, wußte Skar, warum Legis sich die letzten Schritte so übertrieben vorsichtig vorangetastet hatte.
Vor ihnen lag ein gewaltiger unterirdischer Felsendom; keine Höhle, sondern eine Welt unter der Welt, ein bizarrer Wald aus steinernen Bäumen und Büschen, fünf-, sechshundert Fuß hoch und so groß, daß sich sein gegenüberliegendes Ende in wogender Ungewißheit verlor. Gewaltige steinerne Säulen trugen die Decke, und direkt vor ihnen erstreckte sich ein Labyrinth von Felstrümmern und scharfkantigen, von Urgewalten aus dem Boden gebrochenen Brocken. Legis huschte geduckt aus dem Stollen heraus, sah sich hastig nach beiden Seiten um und ging hinter einem Felsen in Deckung. Skar folgte ihr nach sekundenlangem Zögern auf die gleiche Weise, während Mork im Stollen zurückblieb und erst auf einen auffordernden Wink der
Errish
hin nachkam.
Der Quorrl setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Legis legte erneut die Finger auf die Lippen und deutete nach rechts.
Skar sah erst nach Sekunden, worauf die
Errish
sie hatte aufmerksam machen wollen: Zwischen den Felsen bewegten sich Schatten, täuschend klein neben den gigantischen granitenen Gebilden und nahezu unsichtbar durch ihre schuppige graue Haut.
Drachen.
Skar hatte plötzlich das Gefühl, von einer unsichtbaren, eisigen Hand gestreift zu werden. Die Tiere waren noch weit entfernt; sieben, vielleicht acht, die er erkennen konnte, und mehr, sehr viel mehr, mußten sich noch in der Weite der Höhle aufhalten. Legis' Befürchtungen schienen sich bewahrheitet zu haben: Vela hatte die
Errish
zusammengerufen, und sie waren gekommen, aus allen Teilen der Welt und so schnell sie konnten, glaubten sie doch dem Ruf ihrer gewählten Führerin zu folgen. Wenn sie die Wahrheit erkannten —
wenn
sie sie überhaupt erkannten —, war es zu spät. Erst jetzt, erst als Skar die Ansammlung gewaltiger schuppiger Raubsaurier vor sich sah und die ungeheure Macht spürte — nicht die Macht Velas oder ihrer geraubten Magie, sondern die Ballung primitiver, unbeschreiblicher Kraft, die die gewaltigen Ungeheuer darstellten —, begriff er, wie teuflisch Velas Plan wirklich war. Teuflisch und genial zugleich.
Selbst die Macht, die ihr der Stein verlieh, hätte nicht ausgereicht, einen Kampf gegen die
Errish
zu gewinnen. Er mochte ihr Überlegenheit über eine oder auch ein Dutzend der Ehrwürdigen Frauen verleihen, aber gegen eine ganze Armee der
Errish,
gegen die Ehrwürdige Mutter und die geballte Kraft Elays hätte sie selbst mit seiner Hilfe versagt.
Aber die Macht der
Errish
beruhte zum Großteil auf ihrer Gewalt über die Drachen. Nahm man sie ihnen, wurden sie zu ganz normalen Menschen, zu Frauen, die sich in Heilkunst und der Anwendung geheimer Künste verstanden; sie waren aber keine Hexen mehr. Er hatte die wahre Bedeutung von Legis' Worten nicht begriffen, als sie ihm gesagt hatte, daß ihre Tiere ihnen nicht mehr gehorchten. Nicht wirklich.
»So hat sie es also getan«, murmelte er.
Legis sah auf. »Was?«
Skar deutete auf die Echsen. »Das ist der Quell ihrer Macht«, flüsterte er. »Sie beherrscht die Drachen. Sie spricht mit ihnen — so wie ihr es getan habt, früher. Und damit beherrscht sie euch. Die meisten jedenfalls«, schränkte er ein.
Legis biß sich auf die Unterlippe und starrte ihn an. »Unsinn«, sagte sie. »Du selbst hast mir erzählt, wie sie in den Besitz des Steines kam, und wie ...« Sie verstummte, als sie Skars Kopfschütteln sah.
»Warum belügst du dich selbst?« fragte Skar leise. »Du weißt so gut wie ich, daß es so war. Du wußtest es schon die ganze Zeit. Du sagst, eure Tiere gehorchen euch nicht mehr, aber du weißt, daß das nicht alles ist. Das ist keine Erklärung dafür, daß nur wenige —wie du und Laynanya — die Wahrheit erkannt haben.« Er deutete auf die Drachen. »Sie sind mehr als Tiere, nicht wahr?«
Legis schwieg. Ihre Lippen bildeten einen schmalen, blutleeren Strich in ihrem Gesicht, und ihr Blick flackerte. Skar begriff plötzlich, daß er mehr als eine einfache Frage gestellt hatte. Vielleicht war er — ohne es zu wollen — auf das größte und bestgehütete Geheimnis der
Errish
gestoßen: den Schlüssel zu ihrer Macht.
»Ja«, gestand sie schließlich. »Sie sind mehr als Tiere — sie sind überhaupt keine Tiere. Sie ... denken. Aber anders als du und ich, und auch anders als du«,
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