Enwor 4 - Der steinerne Wolf
Hieb. Der winzige Raum glich einem Schlachthaus — überall war Blut, waren tote, zerfetzte Körper, abgerissene Arme, Beine ...
Skar unterdrückte ein Stöhnen. Er hatte die Szene schon einmal erlebt. Verstümmelte. Menschen, die mit gnadenloser Brutalität ermordet — geschlachtet — worden waren. Er schob sein Schwert in den Gürtel zurück, trat vorsichtig über den verkrümmt daliegenden Leichnam eines Quorrl hinweg und sah sich um. Der Anblick ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Übelkeit und Haß.
Er wußte, wer dieses Gemetzel angerichtet hatte.
Der Wolf war hier, ganz in seiner Nähe. Er belauerte ihn, so, wie er ihn die ganze Zeit belauert hatte. Er hockte vielleicht gerade jetzt irgendwo in der Dunkelheit des Ganges vor ihm und starrte ihn aus leblosen Augen an.
Skar entdeckte Herger am anderen Ende des Raumes. Er lag auf dem Gesicht, die Hände zu Klauen verkrümmt, als hätte er versucht, sich in seiner Angst in den felsigen Boden zu graben. Die rechte Hälfte seines Kopfes war abgebissen. Der zersplitterte Schädelknochen zeigte Spuren von Zähnen, gewaltigen, einwärts gekrümmten Zähnen. Zähne aus Stein, dachte Skar, aus schwarzem, auf unselige Weise zum Leben erwachtem Granit, der beseelt war von einer Magie, die seit Äonen vergessen war und ihrer Welt schon einmal den Untergang gebracht hatte.
Skars Hände begannen plötzlich zu zittern. Er schloß die Augen, senkte das Haupt und preßte die Kiefer so heftig zusammen, daß es schmerzte. Aber es half nichts. Der körperliche Schmerz vermochte die andere, tiefergehende Qual, die in seiner Seele gelauert hatte und wie ein böser Alpdruck jetzt wieder zum Leben erwachte, nicht zu vertreiben.
Jetzt erst, in diesem Moment, als er vor Hergers verstümmeltem, ausgeblutetem Leichnam kniete, wurde ihm klar, wie sehr er den Hehler gemocht hatte. Er hatte sich nur eingeredet, ihn zu verabscheuen, hatte versucht, sich das selbst glaubhaft zu machen, weil er gewußt hatte, daß dies geschehen würde, weil er — ohne daß er den Gedanken jemals wirklich bewußt gedacht hätte —Angst vor diesem Augenblick gehabt hatte, vor dem Moment, in dem er sich seiner wahren Gefühle für Herger bewußt werden würde. Vor dem Moment, in dem er sich eingestand, Herger zu mögen. Er hatte gewußt, daß ihn der Wolf töten würde, in genau diesem Augenblick.
So wie der Wolf alles vernichtete, was er, Skar, liebte.
»Warum bringst du mich nicht um?« flüsterte er. »Warum kommst du nicht endlich aus deinem Versteck heraus und stellst dich zum Kampf?« Die gekrümmte Decke über Skars Kopf fing den Klang seiner Worte auf und warf ihn als verzerrtes Echo durch den Gang, und für einen Moment glaubte er fast, ein höhnisches Lachen als Antwort zu bekommen. Er sah auf. Der Tunnel vor ihm war voller Schwärze, Schwärze und Furcht, die aus seiner Seele heraufgekrochen war und in der wabernden Finsternis Gestalt anzunehmen begann.
»Komm heraus«, flüsterte er. »Komm endlich heraus und zeige dich, du verdammte Bestie!« Seine Hände krallten sich in den blutigen Stoff von Hergers Jacke, aber er merkte es nicht einmal. »Ich weiß nicht, was du von mir willst«, flüsterte er, »aber du kannst es haben. Komm her und stell dich zum Kampf, du Ungeheuer!«
Aber die Dunkelheit vor ihm blieb stumm. Allmählich begann er zu begreifen, daß es etwas Schlimmeres als Verzweiflung gab —Ohnmacht. Nicht einmal gegenüber Vela, die sein Leben zerstört und alles, woran er glaubte und wofür er kämpfe, in den Schmutz getreten hatte, hatte er dieses Gefühl in solcher Stärke verspürt. Gegen sie konnte er wenigstens kämpfen, auch wenn er kaum eine Chance hatte, diesen Kampfjemals zu gewinnen.
Seine Hand schloß sich durch den Stoff des Mantels hindurch um den Schwertgriff so fest, daß seine Knöchel knackten. Es wäre leicht — eine rasche Bewegung, ein kurzer, heißer Schmerz; vielleicht nicht einmal das. Trotz allem hatte er es bisher nicht zugeben wollen, aber es gab nichts mehr, wofür er noch leben konnte.
Mit Herger war der letzte Mensch gestorben, der ihm noch irgend etwas bedeutet hatte.
Aber auch diesen letzten Ausweg würde ihm der Wolf nicht lassen.
Er war da, irgendwo ganz in seiner Nähe, lautlos und lauernd.
Er wartete auf eine neue Blöße, einen neuen Schmerz, den er ihm zufügen konnte. Er würde es verhindern, so wie er verhindert hatte, daß Tantor ihn tötete, und wie er Velas Armee vernichtet hatte, ehe er sich und sie umbringen
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