Enwor 4 - Der steinerne Wolf
gar schwimmend der Küste zu nähern, dann wäre er wie ein Stück Treibholz zerschmettert worden. Selbst die SHANTAR hatte Mühe, sich dem Sog der heimtückischen Strömungen und Strudel entgegenzustemmen. Ein kleineres Boot wäre in diesem Hexenkessel rettungslos verloren gewesen.
Eine neue Woge traf die SHANTAR und brach sich brüllend an den Achteraufbauten. Der Gischt schoß schäumend über Deck und fast bis zur Spitze des Focksegels hinauf, und der Stoß, der den Rumpf des Schiffes erbeben ließ, war so heftig, daß Skar sich unwillkürlich fester an die Reling klammerte. Ein Schauer eisigen Sprühregens durchnäßte seinen Umhang.
»Du solltest ein wenig vorsichtiger sein, Skar«, sagte eine Stimme hinter ihm, »sonst mußt du den Rest der Strecke am Ende doch noch schwimmen.«
Skar wandte den Kopf, wischte sich mit einer unbewußten Geste das Salzwasser aus dem Gesicht und schenkte Andred den finstersten Blick, zu dem er fähig war. Der Freisegler grinste. »Im Ernst, Skar«, fuhr er fort. »Es wird Zeit, daß du unter Deck gehst. Der Hafen wird in wenigen Minuten in Sichtweite sein. Und wir in seiner. Es gibt scharfe Augen in Anchor.«
Skar sah instinktiv nach vorn. In Fahrtrichtung, weniger als eine Meile entfernt und die halbe Strecke backbord, erhob sich ein gewaltiger schwarzer Granitpfeiler aus dem Meer. Dahinter lag die Hafeneinfahrt: ein schmaler, zwei Meilen langer Kanal, der den eigentlichen Hafen vor dem Toben des Meeres schützte und Anchor zu einem der wenigen Orte an der Westküste des gewaltigen Kontinents werden ließ, wo ein Schiff überhaupt anlegen konnte. Trotzdem erforderte die Einfahrt großes seemännisches Geschick. Nur einer von zehn Kapitänen wagte es überhaupt, Anchor anzulaufen; und nicht allen gelang es.
Skar nickte knapp, drehte sich um und ging — eine Hand an der Reling, um nicht von einer neuerlichen Welle von den Füßen gerissen zu werden — nach achtern. Andred folgte ihm. Er trug wieder sein schwarzes Regencape, war aber trotzdem durchnäßt bis auf die Haut.
»Was wirst du tun?«
Andred zuckte mit den Achseln. »Das Einfachste«, sagte er.
»Wir werden ganz normal einlaufen und mit den Entladearbeiten beginnen. Wenn es dir nichts ausmacht, ein Bündel zu schleppen wie ein gemeiner Matrose, dann bist du von Bord, bevor Gondered auch nur merkt, daß das Schiff angelegt hat. Ich habe Freunde bei der Hafenverwaltung«, fügte er hinzu, als er Skars zweifelnden Blick bemerkte.
Sie hatten den Achteraufbau erreicht, und Andred öffnete die Tür, aber Skar zögerte noch hindurchzutreten. Sein Blick glitt noch einmal nach vorn und bohrte sich in den gischtenden Nebel aus Schaum und Dunst, der das Schiff einhüllte. Alles schien ruhig und normal, aber Skar
wußte
einfach, daß dieser Eindruck täuschte. Er gab normalerweise nicht viel auf Ahnungen, aber dies war mehr. Es war ein Wissen, das irgendwo in ihm war, das er aber nicht greifen konnte. Er war fünfmal schneller hierhergekommen, als er es eigentlich gekonnt hätte, und er hatte alles getan, seine wahre Identität zu verschleiern. Er war sogar soweit gegangen, sich einen falschen Namen zuzulegen und seinen Stand als Satai zu verleugnen — etwas, das bei dem Skar, der er noch vor wenigen Monaten gewesen war, absolut undenkbar gewesen wäre. Aber Vela wäre nicht Vela gewesen, wenn sie nicht auch dies einkalkuliert hätte.
»Was hast du?« fragte Andred.
Skar fuhr zusammen, sah den Freisegler erschrocken an und schüttelte dann hastig den Kopf. »Nichts«, sagte er. »Es ist nichts. Ich fange schon an, Gespenster zu sehen.« Hastig stieß er die Tür vollends auf, senkte den Kopf und trat in den niedrigen Gang. Andred folgte ihm, blieb jedoch vor der Tür zur Kapitänskajüte stehen und deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich.
»Ich muß an Deck bleiben, bis wir angelegt haben«, sagte er. »Du kannst hier warten. Zeig dich nicht, bevor ich dich rufen lasse. Und laß mir bitte noch etwas von meinem Wein übrig —ja?«
Skar wartete, bis Andred sich umgedreht hatte und wieder an Deck verschwunden war, ehe er die Kapitänskajüte betrat. Der Raum war noch so, wie er ihn vor Stunden verlassen hatte, nur auf dem Schreibtisch lag jetzt ein Stapel ordentlich aufgeschichteter Papiere, und der Weinkrug vor dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, war frisch aufgefüllt. Skar lächelte flüchtig, schloß die Tür hinter sich und ging mit schnellen Schritten zu Andreds Seekiste. Seine Finger zitterten unmerklich,
Weitere Kostenlose Bücher