Enwor 4 - Der steinerne Wolf
Achterdeck hinauf, trat an die Reling und warf einen langen, forschenden Blick zur Stadt hinüber. Hinter den meisten Fenstern war bereits das flackernde Licht von Kerzen und Öllampen zu sehen, und eine Anzahl Männer trieb sich vor einem der Silos herum, ohne einer irgendwie erkennbaren Beschäftigung nachzugehen. Ein zweiter Trupp Männer näherte sich dem Schiff aus der entgegengesetzten Richtung. »Das sind Männer, die die Hafenbehörde schickt«, erklärte Andred auf Skars fragenden Blick. »Sie werden uns beim Entladen
helfen.«
Er betonte das Wort auf seltsame Art und lächelte spöttisch. »Schließlich muß alles seine Ordnung haben. Es könnte ja sonst sein, daß ein Fläschchen Öl von Bord geht, ohne daß der Zoll entrichtet wurde.«
»Warum tust du das, Andred?« fragte Skar, ohne auf die Worte des Freiseglers mit mehr als einem Stirnrunzeln zu reagieren. »Was?«
»Warum hilfst du mir? Gondered wird dich am höchsten Turm der Stadt aufhängen lassen, wenn er davon erfährt.«
Andred schwieg einen Moment und sah an Skar vorbei zur Hafeneinfahrt hinüber. »Vielleicht«, sagte er nach einer Weile, »weil es nicht unbedingt ein Fehler ist, einen Satai zum Freund zu haben.«
»Und einen Thbarg zum Feind?«
Andred verzog abfällig die Lippen. »Ich glaube nicht, daß ich Gondered lieben würde, wenn du nicht an Bord gewesen wärest«, sagte er. »Und wenn das, was du erzählt hast, wahr ist, dann habe ich keine andere Wahl, als mich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Und ich stehe gerne auf der Seite der Sieger, weißt du?«
Skar seufzte. »Ich fürchte, dann hast du einen Fehler gemacht.« »Du irrst dich, Skar«, widersprach Andred ernst. »Ich kenne Vela nicht und weiß nicht, ob sie wirklich zu alldem fähig ist, was du ihr zuzutrauen scheinst. Aber ich kenne Männer wie Gondered. Sie sind stark und machen sich eine Freude daraus, die Mus-keln spielen zu lassen. Aber sie sind keine Gewinner. Männer wie er sind die geborenen Verlierer, Skar. Auch er wird stürzen. Entweder weil Männer wie du ihn zu Fall bringen oder weil Vela ihn wegwerfen wird, sobald er seinen Dienst getan hat.«
»Und wenn du dich irrst?« fragte Skar leise.
Andred zuckte abermals mit den Schultern. »Dann habe ich mir wenigstens für ein paar Stunden einbilden können, meinen Teil zur Errettung der Welt beizutragen«, sagte er mit übertrieben komischer Dramatik in der Summe.
Skar mußte gegen seinen Willen lachen. Andred schlug ihm freundschaftlich auf die Schultern, drehte sich um und rief ein Kommando zum Deck des Schiffes hinunter. Die SHANTAR hatte sich in den wenigen Stunden, die Skar unter Deck gewesen war, vollkommen verändert. Die Segel waren aufgerollt und sorgsam verschnürt worden, und die gewaltigen Doppelruder waren im Rumpf des Schiffes verschwunden; die Luken waren mit metallenen Laden verschlossen. Fast die gesamte Mannschaft befand sich an Deck und wartete auf den Beginn der Entladearbeiten; darauf und wohl auch auf den wohlverdienten Landurlaub, der sich daran anschließen würde. Die Ladeluken standen offen, und ein Teil der Fracht war bereits an Deck geschafft worden.
Andred warf einen ärgerlichen Blick zur Stadt hinüber. »Der Hafenmeister läßt sich verdammt viel Zeit«, murmelte er. »Ich glaube, ich habe bisher die falschen Leute geschmiert...«
Skar trat dichter an die Reling heran und sah ebenfalls zur Stadt hinüber. Die Nacht verwandelte ihre Silhouette in einen mächtigen grauen Schatten, vor dem die Bewegungen der Männer auf dem Kai nur schemenhaft zu erkennen waren, aber sie trug auch den Klang ihrer Stimmen und die rauhen Scherzworte, die hin und her geworfen wurden, deutlich bis zu ihnen herüber. Skar fiel plötzlich auf, wie still es trotz allem war. Die Stimmen der Männer wirkten ... isoliert, akustische Farbtupfer auf einem ansonsten vollkommen leeren Hintergrund. Der Rumpf der SHANTAR knarrte leise, während sich das Schiff auf den Wellen wiegte, aber weder aus der Stadt noch von einem der vier anderen Schiffe war auch nur das leiseste Geräusch zu hören.
Es ist
zu
still, dachte Skar erschrocken. Er fuhr herum, starrte alarmiert zur Hafeneinfahrt und dem schwarzen Schatten des Kaperseglers und dann wieder zum Kai hinüber. Die Entlademannschaft hatte die SHANTAR fast erreicht, und auch ihre Gestalten waren nicht mehr als schwarze Umrisse. Aber es waren ausnahmslos die Umrisse großer, sehr großer und muskulöser Männer, Männer, die für die schwere Arbeit in
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