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Enwor 4 - Der steinerne Wolf

Enwor 4 - Der steinerne Wolf

Titel: Enwor 4 - Der steinerne Wolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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wenig mehr als ein senkrechter, konturloser Schatten. Er schätzte ihre Höhe auf hundertfünfzig, allerhöchstens zweihundert Fuß — kein unüberwindliches Risiko für einen entschlossenen Mann. Aber er verwarf diesen Gedanken fast sofort wieder. Das Risiko, vom Hafen aus gesehen zu werden, war zu groß. Und er wäre nicht einmal überrascht gewesen, wenn Gondered auch dort oben ein paar von seinen Männern postiert hätte.
    Zumindest hätte er das getan, wäre er an der Stelle des Thbarg gewesen.
    Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an Andred.
    »Nein«, sagte er. »Zu gefährlich. Wenn wir entdeckt werden, dann bieten wir zwei prachtvolle Zielscheiben. Wir werden versuchen müssen, so in die Stadt zu gelangen. Was ist mit diesem Her-ger, von dem du gesprochen hast — glaubst du, daß er uns auch jetzt noch helfen wird?«
    Andred nickte, aber Skar bezweifelte beinahe, daß er seine Worte überhaupt gehört hatte. Er sah erst jetzt, daß der Freisegler weit schwerer verletzt war als er — sein linker Arm hing schlaff herunter, und die Hand begann sich allmählich dunkel zu färben, und aus seinem Haaransatz rieselte ein dünner, aber beständiger Blutstrom über seine Schläfe. Besorgt trat er auf ihn zu, um sich um seine Verletzungen zu kümmern, aber Andred winkte erneut ab. »Nicht«, sagte er leise. »Laß mich.«
    Skar senkte schuldbewußt den Blick. Natürlich machte Andred ihn — wenn auch unbewußt — für alles verantwortlich, was geschehen war, und daß er den Gedanken nicht laut aussprach, nicht ein einziges Wort von Schmerz oder Vorwurf von sich gab, machte es eher noch schlimmer. Ohne Skar würden seine Männer noch leben und sein Schiff kein brennender Trümmerhaufen sein. Skar war nur ein Bettler gewesen, als sie sich in Endor getroffen hatten, und er, Andred, ein stolzer, nicht gerade reicher, aber doch zumindest wohlhabender Freiseglerkapitän, und ein Augenblick, ein winziger Moment der Großherzigkeit hatte ihn alles gekostet. Er hatte nicht nur sein Schiff" verloren. Von einem Moment zum anderen war er zu einem Gejagten wie Skar geworden, und Skar wußte plötzlich — so grundlos und so sicher, wie er zuvor gewußt hatte, daß die SHANTAR in ihr Verderben segelte, daß Andred sterben würde.
    Er drängte den Gedanken zurück, wandte sich ab und drehte sich unschlüssig um seine Achse. Das Felsband, auf das sie sich gerettet hatten, war wenig mehr als zwei Manneslängen breit, aber die zerschründeten Grate und Steine boten ihnen genug Deckung, selbst wenn sie bis zum Anbruch des Tages hierbleiben mußten. Schließlich konnte Gondered den Hafen nicht ewig abriegeln lassen. Aber Skar verwarf auch diesen Gedanken. Sie hatten nicht so viel Zeit. Sie brauchten Wasser und trockene Kleider, wenn sie nicht erfrieren wollten, und Andreds Wunden mußten versorgt werden. »Ich fürchte, wir müssen es riskieren«, murmelte er. »Bleib immer dicht hinter mir. Und keinen Laut.«
    Er wandte sich um, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß Andred ihm folgte, und begann sich vorsichtig einen Weg zwischen den feuchtglänzenden Felsen hindurch zu suchen. Der Boden war glitschig und fiel zum Wasser hin leicht ab, so daß Skar vorsichtig auftreten und sich wie ein alter Mann von Stein zu Stein tasten mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jetzt, als die Anspannung allmählich nachließ, spürte er, wie kalt es war. Der Winter hatte zwar seinen Höhepunkt überschritten, schon als Skar in Endor gewesen und auf ein Schiff gewartet hatte, aber die Temperaturen lagen trotzdem nur knapp über dem Gefrierpunkt, und vom Wasser schien Kälte wie unsichtbarer Nebel aufzusteigen und Skars durchnäßte Kleider in einen Panzer aus Eis zu verwandeln.
    Das steinerne Sims zog sich halbkreisförmig am Fuß der Klippe entlang, hier und da etwas höher oder niedriger, so daß sie manchmal durch knöchel- oder auch knietiefes Wasser waten mußten. Er führte aber insgesamt ohne Unterbrechung bis zu der Stelle, an der die natürliche von der von Menschenhand geschaffenen Mauer des Kais abgelöst wurde. Skar gebot Andred mit einer Handbewegung zurückzubleiben, als sie sich der Hafenanlage näherten. Ein gewaltiger plumper Lastensegler aus Kohon schaukelte dicht vor ihnen auf den Wellen und schützte sie vor direkter Entdeckung; der Rumpf rieb sich knarrend an der Kaimauer, und von Zeit zu Zeit schlugen die schlaff herabhängenden Segel mit flappendem Geräusch gegen die Masten. Ein leiser

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