Enwor 4 - Der steinerne Wolf
graue Gewand, nach außen hin ein Zeichen ihrer Würde, war in Wirklichkeit ein Schild, hinter dem sie sich verkriechen konnte.
»Und?« fragte er nach einer Weile.
Laynanya zuckte zusammen, als hätte der Klang seiner Stimme sie abrupt in die Wirklichkeit zurückgerissen.
»Nichts«, sagte sie. »Wir erfuhren nichts. Sie hielten uns gefangen, und ... und sie taten mir Gewalt an. Mir und ... einigen anderen.«
»Du bist... vergewaltigt worden?« keuchte Skar ungläubig. Er wußte, daß Laynanya die Wahrheit sprach, aber es fiel ihm trotzdem schwer, ihr zu glauben. Der Gedanke, eine
Errish
vergewaltigen zu wollen, war ... undenkbar. Gotteslästerung und mehr. Die Ehrwürdigen Frauen waren tabu, nicht nur hier, sondern überall auf Enwor. Nicht einmal ein Quorrl wäre auf die Idee gekommen, einer
Errish
zu schaden. Skar hatte die Männer, die Vela um sich geschart hatte, kennengelernt, und er wußte, welche Männer das waren — Ausgestoßene, Verfemte, Männer, die für Geld und Macht alles taten, die nichts mehr zu verlieren hatten und dazu Vela vollkommen hörig waren.
Aber eine
Errish
vergewaltigen ?
Und doch war es so. Laynanyas Hiersein und ihr Zustand bewiesen es.
»Du glaubst mir nicht?«
Skar schwieg einen Moment. »Doch ...«, sagte er stockend. »Aber ... ich kenne Vela, und es ... es paßt nicht zu ihr.« »Vielleicht paßt es nicht zu der Vela, die sie einmal war«, sagte Laynanya. »Doch sie ist anders geworden. Du hast vom Stein der Macht erzählt und davon, daß du ihn für sie geholt hast. Du hast ihn in Händen gehalten.«
Skar nickte. Laynanyas Worte weckten die Erinnerungen wieder, und er wußte, noch bevor sie weitersprach, worauf sie hinauswollte.
»Dann weißt du auch, daß dieser Stein mehr ist als ein bloßer Schlüssel zur Macht. Er gibt seinem Besitzer Gewalt über das Erbe der Alten, aber er fordert seinen Preis.«
Skar erinnerte sich. An das dunkle Flüstern in seinem Inneren, an die körperlose, tastende Hand, die durch seine Seele gefahren war, an den dunklen Hauch längst vergangener Geheimnisse und Kräfte, den er gespürt hatte. Und er hatte den Stein nur wenige Augenblicke besessen.
»Du haßt sie«, fuhr Laynanya fort, »und du lebst nur noch dafür, dich zu rächen und sie zu töten. Aber dein Haß gilt nicht der Vela, die du in Ikne kennengelernt hast, und der meine nicht der Schwester, die sie einmal für mich war. Der Stein verändert seinen Besitzer. Er gibt Macht über die dunklen Kräfte unserer Seele, aber es ist diese Macht, die den Alten am Ende den Untergang brachte. Das Böse fordert seinen Preis, Skar, und Vela hat diesen Preis bezahlt. Sie ist nicht mehr sie selbst. Sie ist zu ... einem Ding geworden, einem bösen, berechnenden Ding.
Sie ist kein Mensch mehr.«
»Wußte sie davon, als sie mich beauftragte, nach Combat zu gehen?« fragte Skar.
Laynanya zögerte einen Moment. »Ich glaube, sie hat es geahnt«, sagte sie dann. »Auch wir wissen nicht viel von der Macht der Alten. Es gibt Legenden, aber die meisten davon sind wirklich nicht mehr — Geschichten eben. Aber wir wußten um den Stein der Macht und den Fluch, der auf ihm lastet. Sie muß geahnt haben, in welche Gefahr sie sich begibt. Vielleicht hat sie sogar aus edlen Beweggründen gehandelt. Damals, als sie mit dir gesprochen hat, hat sie die Wahrheit gesagt. Sie wollte den Stein nicht für sich. Sie wollte Enwor retten« — sie lachte leise — »und der Welt den Frieden bringen. Aber das ist vorbei. Sie hat den Stein seit Monaten, und das, was an gutem Willen und Ehre in ihr war, ist verschwunden.«
»Und du?« fragte Skar leise. Er zweifelte nicht an ihren Worten. Sie sprach die Wahrheit, aber es gibt verschiedene Arten, die Wahrheit zu berichten. Laynanyas Wahrheit war voller Haß und Verbitterung, und für einen winzigen Moment glaubte er sich selbst zu sehen. Auch er war verbittert und voller Haß, nur daß er sich selbst belog.
Laynanya antwortete nicht, und Skar war nicht einmal sicher, daß sie seine Frage überhaupt verstanden hatte.
»Das war meine Geschichte«, fuhr sie nach sekundenlangem Schweigen fort. »Wir konnten fliehen. Auch wenn uns der größte Teil unserer Macht genommen ist, sind wir noch immer
Errish,
und es gelang uns, unsere Kerkermeister zu überlisten. Wir flohen aus Elay und kamen hierher.«
»So einfach war das?«
»Nein«, sagte Laynanya hart. »Wir haben lange gebraucht, um das Vertrauen der Quorrl zu gewinnen und sie um uns zu scharen. Und noch
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