Enwor 5 - Das schwarze Schiff
schimmerte es weiß durch die grüngrauen Wogen, und manchmal brachen sich die Wellen mit schaumiger Gischt, lange bevor sie gegen die schimmernde Mauer trafen. Eis, das bis dicht unter die Wasseroberfläche herangewachsen war und nun wie eine Phalanx kleiner heimtückischer Seeungeheuer auf den leichtsinnigen Segler wartete, der ihnen in die Fänge lief. Eine Todesfalle, selbst für einen so erfahrenen Seemann wie Rayan.
Er schwenkte das Fernrohr weiter, aber der Anblick war überall gleich: eine fugenlose Wand, glatt und poliert wie Glas, hier und da gerissen und zu bizarren Mustern gesprungen, aber trotzdem von undurchdringlicher Härte. Nicht einmal ein einzelner Mann hätte dort Zuflucht finden können, geschweige denn ein ganzes Schiff.
»Was ist das da?« fragte Del leise. »Dort vorne?«
Skar setzte das Glas ab, sah den jungen Satai fragend an und blinzelte mit bloßen Augen zum Horizont. Er konnte nichts Außergewöhnliches erkennen. »Was meinst du?«
»Direkt vor uns. Siehst du es nicht?«
Skar hob das Glas erneut an die Augen und starrte in die Richtung, in die Dels Arm wies. Im ersten Moment sah er nichts als schimmerndes Weiß und monotone Glätte, aber dann gewahrte er ein flüchtiges Aufblitzen, das Spiegeln von Licht auf einer gebrochenen Eisfläche, nur sichtbar, wenn sich die SHAROKAAN auf dem Rücken einer Woge befand und kurz davor war, ins nächste Wellental hinabzustürzen. Wortlos setzte er das Fernrohr ab und gab es Rayan zurück. »Del hat recht. Sieh selbst.«
Der Freisegler griff wütend nach dem Instrument, preßte die Lippen aufeinander und starrte Skar an. Aber schließlich hob er das Glas und blickte sekundenlang durch die Linse.
»Siehst du es?« fragte Skar.
Rayan nickte widerwillig. »Den Einschnitt?«
»Die Durchfahrt«, verbesserte Skar. »Dahinter muß ein See liegen. Siehst du, wie sich das Sonnenlicht auf dem Wasser bricht?«
Rayan antwortete nicht. Sein Gesicht verriet Anspannung, und Skar konnte den lautlosen Kampf, der hinter seiner Stirn tobte, fast sehen. Seine Kiefer mahlten in einer unbewußten, kraftvollen Bewegung.
»Ich sehe es, aber...«
Skar brachte ihn mit einer knappen, aber energischen Geste zum Verstummen. Der Anblick der senkrechten, wie mit einer gewaltigen Axt in das Eis gehauenen Bresche ließ einen verzweifelten Plan in ihm Gestalt annehmen. »Was glaubst du?« fragte er langsam. »Ist der Kanal breit genug für die SHAROKAAN?«
Rayan ließ das Glas sinken und starrte Skar an, als zweifle er ernsthaft an seinem Verstand. »Vielleicht«, sagte er. »Auf diese Entfernung kann ich das nicht sagen. Und wenn er breit genug ist, heißt das noch lange nicht, daß er auch genug Tiefgang hat. Warum? Du glaubst doch nicht ernsthaft, daß ich mein Schiff dort hineinmanövriere? Selbst wenn wir hindurchkommen, ohne uns den Rumpf aufzuschlitzen oder wie ein Korken in einem Flaschenhals hängenzubleiben — woher willst du wissen, was dahinter ist? Es kann offenes Meer sein, aber genausogut ein See, aus dem wir nie wieder herauskommen.«
Skar tauschte einen langen Blick mit Del. Sein Gesicht blieb starr, aber er schien den gleichen Gedanken nachzuhängen wie er. Er nahm Rayan das Glas aus der Hand, blickte erneut die Eiswand an und drehte sich herum, um in die entgegengesetzte Richtung zu sehen.
Durch das Fernrohr betrachtet, war der Dronte bereits erschreckend nahe gekommen; ein schwarzes Ungeheuer, dessen gewaltiges Hauptsegel das Sonnenlicht aufzusaugen schien. Hinter der niedrigen Reling war nicht das geringste Zeichen von Leben auszumachen, aber Skar war sicher, daß man dort drüben jede Bewegung an Deck der SHAROKAAN mißtrauisch verfolgte.
Skar senkte das Glas, schob es mit einer bedächtigen Bewegung zusammen und begann Rayan mit knappen Sätzen seinen Plan zu erklären.
D ie Eiswände glitten so dicht an der Bordwand vorüber, daß man nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um sie zu berühren. Ein hoher, schwingender Ton, als würde irgendwo vor ihnen eine gewaltige gläserne Harfe anschlagen, ließ die Nerven der Männer vibrieren, und das dumpfe Klatschen der Wellen erzeugte ein unwirklich verzerrtes Echo, das die bizarre Atmosphäre im Inneren des Eiskanals noch verstärkte. Die schimmernden Wände färbten das Licht blau.
Skar hob die Hände vor den Mund und blies hinein, um die Kälte aus seinen Fingern zu vertreiben. Die SHAROKAAN bewegte sich, nur noch im Schneckentempo vorwärts. Der Wind war vollends zum Erliegen gekommen, als
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