Enwor 8 - Der flüsternde Turm
mußte er die gesamte Stadt bedeckt haben.
»Ob er... giftig ist?« Kiina schien seine Gedanken gelesen zu haben.
Skar überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Kaum«, sagte er. »Dann wären wir schon tot.« Er deutete auf seine Stiefel, die bis zu den Knöcheln hinauf mit schwarzen Spritzern übersät waren.
»Vielleicht wirkt er nicht sofort tödlich.«
Skar zuckte abermals mit den Schultern und ging weiter. Vielleicht hatte Kiina recht, vielleicht auch nicht — sie würden es früh genug am eigenen Leibe spüren. Aber Skar glaubte nicht, daß die Erklärung so einfach war. Was immer die Bewohner Elays umgebracht hatte, hatte in Sekundenschnelle zugeschlagen. Die Stellung der Toten auf dem großen Platz war die von Menschen, die verzweifelt versucht hatten, die Stadt zu verlassen. Nicht einem von ihnen war es gelungen.
»Wohin?« fragte Kiina.
Skar deutete nach Osten, zur Stadtmitte hin. »Zum Palast deiner... der
Margoi«,
verbesserte er sich hastig. »Wenn es Überlebende gibt, dann dort.«
Die Spuren der Kämpfe wurden deutlicher, je tiefer sie in die Stadt eindrangen. Viele Häuser waren ausgebrannt und zum Teil zusammengebrochen, und manche Straßen waren so mit Schutt und Trümmern übersät, daß sie große Umwege in Kauf nehmen mußten, denn die Trümmerberge zu überklettern, wagte Skar nicht. Ein rostiger Nagel, den sie sich eintraten oder ein verzerrter Fuß konnten das Todesurteil bedeuten, falls sie gezwungen waren, schnell zu füchten.
Aber seine Befürchtungen erwiesen sich als grundlos. Es war so, wie er im allerersten Moment geglaubt hatte. Elay war eine Stadt der Toten. Zwischen den schlammbedeckten Trümmern lebte nichts mehr. Und gerade das war es, was Skar mehr als alles andere beunruhigte. Er hatte das Leben eines Kriegers geführt und mehr als eine geschleifte Stadt gesehen — aber er war niemals an einem Ort gewesen, der so völlig ohne Leben gewesen wäre wie Elay. Sie fanden sehr viel weniger Tote, als er beim Anblick des mit reglosen Körpern übersäten Torplatzes befürchtet hatte, aber das hieß nicht, daß es
keine
Leichen gegeben hätte.
Nach einer Weile blieb er wieder stehen und winkte Kiina, zu ihm zurückzukommen.
»Was hast du?«
Skar deutete auf den reglosen Körper einer
Errish,
der halb unter dem Kadaver eines Pferdes eingeklemmt war. Tier und Reiter waren im gleichen Augenblick gestorben, wie ihre Stellung verriet. »Schau sie dir an«, verlangte er.
Kiina gehorchte. Skar beobachtete sie genau, während sie die Tote betrachtete. Ihr Gesicht verriet leise Spuren von Ekel, und ihre Hände zitterten noch immer ein wenig. Aber er sah keine Spuren von Panik. Kiina hatte den Schock schneller überwunden, als er gehofft hatte.
»Fällt dir nichts auf?« fragte er.
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Sie ist unversehrt«, fuhr Skar fort.
»Unversehrt?« Kiina ächzte. »Sie ist —«
»Sie liegt seit mindestens zehn Tagen hier und beginnt zu verwesen«, unterbrach sie Skar, »aber das meine ich nicht. Sie sind alle unversehrt, Kiina.« Er machte eine weit ausholende Geste. »Ich war schon in Städten, deren Bewohner bis auf den letzten Mann niedergemacht wurden.«
»Und?« Kiina begriff immer noch nicht.
»Ein Festschmaus für die Ratten und Fliegen«, sagte Skar.
»Siehst du welche?«
Kiina antwortete nicht, aber ihr Blick verriet Skar, daß sie endlich begriffen hatte. Nicht nur die
menschlichen
Bewohner Elays waren getötet worden. Etwas — jemand? — hatte jede Spur von Leben aus dieser Stadt getilgt, und mehr noch: Ein Tisch, der so reichlich gedeckt war wie dieser, hätte jeden Aasfresser im Umkreis von hundert Meilen anziehen müssen. Daß er es nicht getan hat, dafür gab es eigentlich nur zwei Erklärungen: irgend etwas hielt alles Leben von Elay fern, das nicht auf zwei Beinen ging und dumm genug war, die Warnungen seines Gefühles zu mißachten —oder die unsichtbare tötende Macht, die Elay ausgelöscht hatte, war noch da.
Keine dieser beiden Erklärungen gefiel Skar besonders.
Er machte eine abgehackte Handbewegung. »Komm weiter. Je eher wir hier wieder heraus sind, desto besser.«
Je weiter sie sich dem Palast näherten, desto unübersehbarer wurden die Spuren schwerer Kämpfe, die in Elay getobt haben mußten, ehe der Tod zu seinem letzten Schlag ausholte. Manche Gebäude waren nur noch Trümmerhaufen, bis auf die Grundmauern niedergebrannt, andere wie von gewaltigen Axthieben halbiert, ihrer Fassaden beraubt oder
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