Enwor 8 - Der flüsternde Turm
Nacht und die Strapazen der vergangenen Tage forderten ihren Tribut, und dazu kam, daß sich sein Zustand im gleichen Maße verschlechterte, wie sich der Kiinas zu bessern schien: Am Nachmittag bekam er Fieber, und während Kiinas Kräfte von Stunde zu Stunde zunahmen, glaubte Skar innerlich zu verbrennen. Er bekam Schüttelfrost, und sein Zahnfleisch blutete. Und als er endlich einschlief, da
träumte er wieder.
Den gleichen, wirren, nur von Haß und zielloser Wut erfüllten Traum wie in den Nächten zuvor, der auf dieselbe, völlig unlogische Art zweigeteilt war: Während der eine — größere — Teil seines Bewußtseins hilflos in den Klauen des Alptraumes gefangen war, blieb der andere wach und registrierte und sah und hörte alles, was rings um ihn herum vorging.
Und doch war etwas an diesem Traum anders als an seinen Vorgängern, aber es dauerte eine Weile, bis Skar begriff, was es war: Er hatte sich getäuscht. Es war nicht die Wirklichkeit, die er mit dem vermeintlich klar gebliebenem Teil seines Bewußtseins wahrnahm. Auch heute schien er auf einer schmalen Grenzlinie zwischen zwei Welten dahinzutreiben, aber die eine war so irreal wie die andere: Da war der Alptraum mit seinem bösen Flüstern und Drängen (...so
viel Haß, hatte die Margoi gesagt. So unendlich viel Haß...),
und da war eine zweite Vision, nur war sie von solcher Klarheit und Schärfe, daß er sie für die wirkliche Welt gehalten hatte. Aber sie war es nicht. Er sah sich selbst, wie er auf dem schmalen Lager aus Decken und Fellen lag, das Kiina für ihn bereitet hatte, aber der schlafende Schatten neben ihm war nicht Kiina; als er sich zu ihm herumdrehte, starrte er in eine flache schwarze Fläche aus glitzerndem Chitin, wo ein Gesicht sein sollte, und die Hand, die wie in einer bösen Verhöhnung menschlicher Gestik unter der Decke hervorkroch und einen rasiermesserscharfen Krallenfinger über
nicht vorhandene Lippen legte, war keine Hand, sondern eine dreifingrige Forke, die nur zum Töten gemacht war.
Er hatte nicht einmal Angst, denn er spürte, daß der
Daij-Djan
nicht gekommen war, um ihn zu töten. Vielleicht war er niemals sein Feind gewesen. Sekundenlang blickte er das flache Nicht-Gesicht der
Sternenbestie
an, dann schlug er seine Decke zurück, stand unsicher auf und folgte dem
Daij-Djan.
Lautlos durchquerten sie das Lager, in dem im Traum alle Bewegungen erstarrt waren, als wäre die Zeit stehengeblieben.
Es war dunkel, und es regnete noch immer, aber die Wolken waren aufgerissen, so daß er die Ebene trotzdem auf Meilen hin deutlich überblicken konnte. Und er sah, was sein höllischer Bruder ihm hatte zeigen wollen:
Über das geborstene Land krochen Schatten heran. Sie waren zu weit entfernt, um sie genau zu erkennen, und fast körperlos; beinahe nur eine Woge sich bewegender Schwärze, die sich den Bergen und damit ihrem Lager näherte. Aber etwas an ihren Bewegungen war falsch, und die Dunkelheit, die ihnen wie ein beschützender Mantel folgte, war nicht nur die Abwesenheit von Licht, sondern etwas anderes, unsagbar Fremdes, das aus den Abgründen des Wahnsinns heraufgekrochen war.
Sie kommen, Bruder,
flüsterte die Stimme des
Daij-Djan
in seinen Gedanken.
Sieh. Die, die mich und dich schufen, sind nicht dumm. Sie wissen, was geschehen ist, und sie kommen, um dich zu holen.
Skar blickte die kriechenden Schatten an, und plötzlich hatte er Angst, Angst wie nie zuvor in seinem Leben.
Ich kann sie vernichten,
fuhr der
Daij-Djan
fort, und plötzlich war seine Stimme wieder ein körperloses, böses Kichern, die Verlockung des Bösen, die sich mit der Angst in Skars Seele vereinte und an seinem Willen nagte wie eine kleine, gierige Ratte.
Gib mir den Befehl dazu, und ich vernichte sie für dich. Es ist ganz leicht.
Du mußt es nur wollen.
Skar zitterte. Er wollte die Hände heben und gegen die Ohren pressen, aber er konnte sich nicht bewegen. Und es hätte auch
nichts genutzt; denn die Bestie stand nicht wirklich vor ihm. Was er sah, war nur ihr Körper, ein Werkzeug, das sie nach Belieben erschaffen und verändern konnte. Das wirkliche Ungeheuer war in ihm. Der
Daij-Djan
war ein Teil von ihm. Er war es immer gewesen, schon lange, bevor er einen Körper bekommen hatte.
Tu es,
fuhr das böse Flüstern fort.
Entfessele mich, wie du es schon so oft getan hast. Ich bin nicht dein Feind, Bruder. Das war ich nie. Komm zu mir. Gemeinsam schlagen wir sie. Es gibt nichts, was uns aufhalten kann. NICHTS!
Skar stöhnte.
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