Enwor 9 - Das vergessene Heer
vertrieben. Es war noch da, und es durchstreifte vielleicht gerade jetzt die Welt dort draußen auf der Suche nach einem neuen Opfer oder vielleicht auch ihm, und es —»Skar!«
Kiinas Ausruf riß ihn abrupt in die Wirklichkeit zurück. Er öffnete die Augen, begriff, daß er eingeschlafen war und Minuten vergangen sein mußten, und sprang auf, ohne kostbare Zeit damit zu verschwenden, zu erschrecken. Mit zwei, drei raschen Schritten war er neben Kiina und spähte durch den Türspalt.
Es war mittlerweile vollends hell geworden, aber die Straße lag so ausgestorben und leer da wie zuvor. Fragend und alarmiert zugleich sah er Kiina an.
»Titch«, antwortete das Mädchen. »Sie haben ihn weggeführt. Zwei Quorrl.« Sie deutete eine Kopfbewegung zum Ende der Straße an. Ihr Gesicht war sehr besorgt.
»Und?«
»Er war in Ketten«, sagte Kiina.
»Bist du sicher?«
»Völlig«, antwortete Kiina, und allein der Umstand, daß sie nicht die Gelegenheit zu einer schnippischen Antwort nutzte, überzeugte Skar endgültig davon, daß sie die Wahrheit sprach. »Wohin sind sie gegangen?« fragte er. »Nach rechts oder links?«
»Links.« Kiina trat einen halben Schritt zurück und zog ihr Schwert aus dem Gürtel.
»Was hast du vor?« fragte Skar.
»Ihn befreien«, antwortete Kiina entschlossen. »Was denn sonst?«
Skar unterdrückte ein Lächeln. Noch vor einer Woche hätte Kiinas Antwort
zu fliehen
gelautet, und zwar mit derselben Selbstverständlichkeit. Aber er hob sich seine Zufriedenheit für später auf und schüttelte den Kopf. »Du bleibst hier«, befahl er.
»Ich
gehe.«
»Du?« Es kostete Kiina sichtliche Mühe, nicht verächtlich die Lippen zu schürzen oder eine abfällige Bemerkung zu machen, aber irgend etwas mußte in seinem Blick sein, was ihr klar machte, daß Widerspruch in diesem Moment nicht sinnvoll war. Nach einer Sekunde zog sie die Hand zurück und zuckte verärgert mit den Schultern. »Soll ich dir versprechen, hier auf dich zu warten?« fragte sie.
»Dieses Versprechen würdest du sowieso nicht halten, oder?« fragte Skar.
»Kaum.«
»Du bleibst hier«, sagte Skar. »Behalte die Straße im Auge, bis ich verschwunden bin, dann kommst du mir nach. Aber vorsichtig. Ich brauche jemanden, der meinen Rücken deckt, niemanden, der Heldentaten vollbringt. Hast du das verstanden?«
Sie nickte wortlos, aber vielleicht war es gerade die knappe Art ihrer Antwort, die ihn davon überzeugte, daß sie tun würde, was er verlangte. Auch sie hatte sich verändert, begriff er plötzlich. Sie hatte angefangen, ein Gespür für Gefahr zu entwickeln.
Er drehte sich zur Tür und spähte noch einmal auf die Straße hinaus. Sie lag noch immer still da. Die drei Türen, die er sehen konnte, waren geschlossen, und in den Häusern rührte sich nichts. Er hörte auch keinen Laut. Die Stadt schien ausgestorben zu sein. Trotzdem erfüllte ihn der Gedanke, dort hinausgehen zu sollen, mit allem anderen als Zuversicht. Es war eine winzige Stadt, aber es war eine Stadt der
Quorrl,
die ihn in Stücke reißen würden, noch ehe er Gelegenheit fand, irgend etwas zu erklären. Behutsam schob er die Klinge seines Schwertes unter den Riegel und versuchte ihn anzuheben. Er bewegte sich leichter, als er erwartet hatte. Aber nur im ersten Moment. Dann verkantete er sich, mit einem Ruck, der Skar klar machte, daß er sich nie wieder bewegen würde. Mit einem bedauernden Seufzer zog er das Schwert zurück, schob es oberhalb des Riegels erneut durch den Türspalt und ließ die Klinge mit aller Gewalt niedersausen. Der rasiermesserscharfe Stahl seines Satai-Schwertes zerschnitt das morsche Holz fast ohne spürbaren Widerstand. Aber es gab einen peitschenden Knall, der in Skars Ohren wie ein Kanonenschuß klang und endlos zwischen den Häusern der schmalen Gasse widerzuhallen schien.
Trotzdem zögerte er keine Sekunde mehr, sondern sprengte die Tür mit der Schulter vollends auf, sprang mit einem Satz auf die Straße hinaus und sah sich blitzschnell nach beiden Seiten um. Nichts.
Die Häuser lagen verlassen und still wie große steinerne Gräber da, eine monotone Reihe würfelförmiger schwarzer Klötze, hinter deren Türen und Fenstern sich kein Leben regte. Skar war jetzt nahezu davon überzeugt, daß es in dieser Stadt keine Quorrl mehr gab. Und das schon seit langer Zeit.
Er wandte sich nach links, huschte geduckt die Straße hinunter und preßte sich dicht vor der Wegkreuzung gegen die Wand. Er lauschte. Aber er hörte auch
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