Enwor 9 - Das vergessene Heer
dem kleinen Verschlag jenseits der doppelten Rückwand gab, und nur ein einziges, vor mindestens zehn Jahren zerbrochenes Spielzeug.
Wortlos trat er neben Kiina, schob sie sanft zur Seite und betrachtete die Tür. Sie war noch massiver, als es von weitem den Anschein gehabt hatte, viel zu stark jedenfalls, um sie mit Gewalt zu öffnen, selbst wenn sie Werkzeug gehabt hätten und keine Rücksicht auf Lärm nehmen müßten. Aber sie war nicht sehr gut gearbeitet. Wie alles, was von den Quorrl stammte, war sie zweckmäßig und stark, aber grob; zwischen Blatt und Rahmen war ein fast fingerbreiter Spalt, durch den er bequem nach draußen sehen konnte.
»Mach das Licht aus«, sagte er.
»Warum?«
»Weil es draußen noch immer nicht richtig hell ist«, antwortete Skar ungeduldig. »Sie werden den Lichtschein sehen, wenn jemand zufällig vorbeikommt.«
»Und wer sollte das sein?« fragte Kiina spöttisch, beeilte sich aber trotzdem, seiner Anweisung zu folgen und die Flamme auszublasen. »Dort draußen ist niemand. Und schon gar keiner, der irgend etwas
zufällig
tut.«
Skar sah sich ärgerlich nach ihr um, ehe er wieder nach draußen blickte. Kiinas Worte kamen der Wahrheit näher, als ihm lieb war. Die schmale Straße, die er durch den Türspalt hindurch zum Teil überblicken konnte, war vollkommen leer. Und obwohl es noch immer nicht hell genug war, um viele Einzelheiten zu erkennen, kam sie ihm auf die gleiche, unheimliche Weise verlassen und leer vor wie dieses Lagerhaus. In keinem der Häuser brannte Licht. Nirgends ein Laut. Er begann sich zu fragen, ob in dieser Stadt überhaupt jemand lebte.
»Aufjeden Fall kommen wir hier heraus«, sagte er nach einer Weile. Kiina sah ihn fragend an, und Skar deutete erklärend auf den wuchtigen Riegel, der von außen vor der Tür lag. Ihn durch den Türspalt hindurch mit einem Messer anzuheben oder nötigenfalls mit seinem
Tschekal
zu zerschlagen, war kein Problem. »Dann sollten wir es tun«, schlug Kiina vor.
»Und einem Quorrl in die Arme laufen, der gerade seinen Nachttopf ausleert?« Skar schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Wir warten hier, bis Titch kommt.«
»Und wenn er
nicht
kommt?«
Skar wußte, was Kiina meinte. Sie hatte so deutlich wie er gesehen, wie die beiden Quorrl Titch in die Mitte genommen hatten. Einen Moment lang sah er sie nur an, dann zuckte er mit den Schultern, drehte sich demonstrativ von der Tür weg und ließ sich vor einem der Säckestapel zu Boden sinken. Er war müde, aber nicht sehr; und ein wenig mutlos. Sein Armstumpf tat weh.
Sekundenlang blieb Kiina einfach in der Dunkelheit stehen und starrte ihn an, ehe sie sich mit einer eindeutig verärgerten Bewegung herumdrehte und seinen Platz an der Tür einnahm. Skar schloß die Augen, obgleich er wußte, daß es ein Fehler war. Er würde einschlafen, wenn er nicht sehr, sehr aufpaßte, und allein dieses Achtgeben verlangte schon mehr Willenskraft von ihm, als er im Moment noch aufbringen konnte.
Trotzdem gestattete er sich den Luxus, die betäubende Schwere in seinen Gliedern als angenehm zu empfinden und sich und seine Gedanken einfach treiben zu lassen. Mit Ausnahme jener einen, viel zu kurzen Nacht in der Bergfestung hatte er noch keine Gelegenheit gefunden, wirklich über alles nachzudenken;
und da war er noch viel zu betäubt und erschlagen von dem Erlebten gewesen, um seine Tragweite auch nur annähernd zu begreifen.
Er war sich auch nicht sicher, ob er es jetzt tat. Er war sich nicht einmal sicher, ob er alles, woran er sich zu erinnern glaubte, auch
wirklich
erlebt hatte. Der Dämon unter dem Turm, jenes schreckliche Geschenk der Vergangenheit — war das alles wirklich? Oder nur ein weiterer Schachzug in diesem schier endlosen Spiel aus Lügen und Täuschungen, in dem er selbst mitspielte, ohne zu wissen, auf welcher Seite er stand?
Er wußte es nicht. Er
hatte
etwas gesehen, aber es kam ihm jetzt, mit dem Abstand einiger Tage und dem Gefühl des
wieder-einmal-überlebt-zu-haben,
bizarr und irreal vor. Vielleicht war der Dämon nicht das gewesen, was er zu sehen glaubte. Vielleicht hatte er die gehörnte Scheußlichkeit nur erblickt, weil sie genau das war, was er zu sehen erwartete.
Der Gedanke beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil. Er verstärkte auf grundlose, aber jeden Zweifel ausschließende Art nur seine Überzeugung, daß Titch und er
irgend etwas
geweckt hatten, als sie Ennart töteten. Und es war noch da. Er hatte es nicht besiegt, nicht einmal
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