EONA - Das letzte Drachenauge
Beiboot zu Wasser gelassen worden war. Vier Gestalten kletterten über eine Strickleiter in die Nussschale; dann hielt ein Ruderer mit kräftigen Schlägen auf die Küste zu. Keine der schemenhaften Gestalten sah aus wie eine Frau.
Kygo und der Dorfälteste Rito traten auf den Strand und unsere restliche Truppe sammelte sich hinter ihnen. Zwei Männer drückten Lord Ido auf die Knie. Kygo rief Dela zu sich und gab ihr leise Anweisungen, woraufhin sie zu uns kam. Sie stapfte mühsam durch den Sand. Ihre rechte Gesichtshälfte war verbunden, da ein Schwertstreich ihre Wange geritzt und ihr das halbe Ohr abgetrennt hatte.
Sie verbeugte sich. »Seine Majestät befiehlt seinen Naiso zu sich.«
Als sie den Kopf hob, sah ich die stumme Entschuldigung in ihrem Blick. Für einen Moment begriff ich nicht, wofür sie sich entschuldigte, doch dann erinnerte ich mich an den kleinen Betrug im Badehaus zwischen ihr und Vida. Er erschien mir weit weg und belanglos im Vergleich zu dem, was am Strand geschehen war.
Ich erhob mich, drückte ihr sanft die Schulter und spürte, wie ihre Anspannung etwas nachließ. »Wie geht es Euch, Dela? Vida sagt, es ist eine grässliche Wunde.«
Dela betastete den straff angelegten Verband. »Sie wird mich nicht schöner machen.« Ihre Antwort hatte unbeschwert klingen sollen, doch ihre Stimme hörte sich hohl an. Mit einem raschen Blick über die Schulter drückte sie mir den kleinen Lederbeutel mit den Totentafeln meiner Ahnen in die Hand. »Die solltet Ihr vorerst an Euch nehmen.« Sie schüttelte den Kopf und unterband damit meinen Protest. »Es ist das Einzige, was Eure Mutter Euch gegeben hat. Ihr solltet sie bei Euch tragen, wenn ihr euch trefft. Zeigt ihr, dass Ihr es nie vergessen habt.« Sie beugte sich vor und fügte leise hinzu: »Vielleicht weiß sie mehr über Eure Vorfahrin.«
Widerstrebend nahm ich den Beutel und schob ihn in die Tasche meines Gewands. In Leder verpackt und verborgen war Kinras Tafel keine wirkliche Gefahr. Und doch verursachte es mir Unbehagen, sie dabeizuhaben.
Dela tätschelte mir die Hand. »Kommt. Seine Majestät wartet und er ist nicht sehr glücklich.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte ich und ging ihr voraus über den Sand zurück.
Während wir auf Kygo zugingen, starrte er unverwandt auf das ankommende Boot. Ido dagegen sah die ganze Zeit mich an. Er war wieder gefesselt, diesmal aber mit den Händen hinter dem Rücken und – nach den unbeholfenen Bewegungen seiner Schultern zu schließen – auf möglichst schmerzhafte Weise: eine kalkulierte Demonstration der Tatsache, dass Lord Ido und seine Macht noch immer unter der Herrschaft des Kaisers standen. Und vielleicht war Kygo auch nicht erhaben über eine gewisse Rachsucht aus persönlichen Gründen.
Ich zwang mich, Ido zu ignorieren, und verbeugte mich vor dem Kaiser, doch der verriet mit keinem Zucken, dass er mich kannte. Ich stellte mich an meinen Platz links neben ihm. Das Boot legte an und alle vier Insassen sprangen heraus und zogen es auf den Strand. Flankiert von zwei Seeleuten, schritt der kräftige, untersetzte Meister Tozay über den Sand. Der vierte Mann blieb beim Boot zurück.
Tozay beschleunigte seine Schritte und eilte seinen Begleitern voraus. Besorgt musterte er die Leute hinter uns, und als seine ernsten Züge sich entspannten, wusste ich, dass er Vida entdeckt hatte. Erleichtert oder vielleicht zu einem Dankgebet senkte er den Kopf. Dann nickte er ihr kurz zu. Seine Männer hatten ihn inzwischen eingeholt. Alle drei sanken vor dem Kaiser in den Sand und verbeugten sich.
»Erhebt Euch, Meister Tozay«, sagte Kygo. »Ihr seid uns sehr willkommen.«
Tozay richtete sich auf. »Wir wussten nicht, was uns erwartet, Majestät. Wir haben den Feuerball gesehen.«
»Der Verrat eines Opportunisten, den Lady Eona und Lord Ido gerächt haben«, erwiderte Kygo. »Gemeinsam.« Über seine schlichte Bedeutung hinaus hatte dieses letzte Wort für beide Männer offenkundig noch einen verborgenen Sinn.
Tozay ließ den Anblick des knienden und gefesselten Drachenauges auf sich wirken. »Verstehe«, sagte er trocken. »Braucht Lord Ido ein abgetrenntes, abschließbares Quartier, Majestät?«
»Ja«, gab Kygo knapp zurück.
Ich räusperte mich und bei diesem Geräusch sah Kygo sich mit zu Schlitzen verengten Augen zu mir um. Dachte er, ich wollte mich zu Idos Gunsten einmischen?
»Ist meine Mutter an Bord, Meister Tozay?«, fragte ich rasch. »Ist sie wohlauf?«
Tozay nickte.
Weitere Kostenlose Bücher