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EONA - Das letzte Drachenauge

EONA - Das letzte Drachenauge

Titel: EONA - Das letzte Drachenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Goodman
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sich erst tief verbeugt und sich dann an die Tür gedrückt, als wir durch den schmalen Gang kamen. Tozay hatte sich kurz zu mir umgedreht, um meine Reaktion zu beobachten. Vielleicht hatte er gedacht, ich würde die Tür aufreißen und das Drachenauge befreien.
    »Sir.« Das gequälte Wispern des Decksjungen klang durch die lastende Stille, die sich über die Kommandokabine gesenkt hatte. »Ich habe das heiße Wasser vergessen.«
    Meister Tozay wies mit dem Kopf zur Luke. »Dann aber schnell.«
    Ich nahm ein nautisches Instrument vom Regal hinter mir, einen Messingkompass, dessen Windrose im verschwenderischen Licht der drei großen Wandlampen schimmerte, drehte ihn in den Händen und war froh, mich auf etwas konzentrieren zu können. Trotz meines Unbehagens ging mir langsam auf, dass Meister Tozay nicht nur ein einfacher Fischer war, der sich in einen Widerstandskämpfer verwandelt hatte, wie er vorgab. Er räumte die auf dem Tisch ausgebreiteten Sternkarten ab und seine Bewegungen wurden immer hastiger, als weder Lillia noch ich Anstalten machten, etwas zu sagen. Der Junge kehrte zurück, brühte den Tee eilig auf und verschwand mit einer Verbeugung.
    »Ich werde euch beide allein lassen, Mylady, damit ihr miteinander vertraut werden könnt«, sagte Meister Tozay und schob die letzte Kartenrolle in einen der ordentlichen Schlitze in der Trennwand. Dann sah er auf Lillias gesenkten Kopf und auf ihre verschränkten Hände, verneigte sich rasch und zog die Tür hinter sich zu.
    Über uns waren Rufe und Knarren zu hören: Die Dschunke segelte ab. Ich legte das Instrument ins Regal zurück.
    »Darf ich Euch Tee einschenken?«, fragte ich.
    Endlich sah sie auf. Obwohl die Last der Jahre die energischen Linien ihres Gesichts hatte verwittern lassen, hatte es mehr oder weniger die gleiche Form wie das meine. Vielleicht hatte ihr Kinn keinen so trotzigen Ausdruck, und sicher war ihre Nase etwas länger, doch ihre Mundwinkel waren genauso nach oben geschwungen wie meine, und ihre Augen lagen ebenfalls weit auseinander. Und auch ihre Miene kannte ich gut, denn ich hatte sie oft selbst aufgesetzt: eine allzu höfliche Maske, um nur keinen Meister, keine Herrin zu reizen.
    »Nein, wenn Ihr bitte erlaubt, Mylady«, sagte sie, trat an den Tisch, nahm den Tee, der noch zog, und goss flink etwas davon in die erste Schale.
    Ich biss mir auf die Lippen. So wie es aussah, würde sie sich nicht auf eine Stufe stellen mit mir. »Danke.« Ich holte tief Atem und fügte hinzu: »Mutter.«
    Ihre Linke zitterte und sie verschüttete etwas Tee. Langsam setzte sie die Kanne ab, nahm die Schale und reichte sie mir mit einer Verbeugung. Als ich danach griff, hielten wir inne und sahen auf unsere Hände. Beide hatten wir lange, schmale Finger, und unsere Daumen standen fast im rechten Winkel ab.
    »Wir haben die gleichen Hände«, sagte ich, als ich die Tasse nahm, und zuckte zusammen bei dem allzu heiteren Ton in meiner Stimme.
    »Meine Mutter hatte auch solche Hände«, gab sie leise zurück und wagte es, flüchtig zu mir aufzusehen. »Ich spreche von Charra, Eurer Großmutter.«
    »Charra? Ich habe ihre Totentafel.«
    »Ihr habt sie immer noch?«
    Im Stillen dankte ich Dela. »Ja – und die andere auch.«
    Meiner Mutter war die Betonung nicht entgangen und sie schaute weg. Sie wusste also etwas über Kinra.
    Ich stellte meine Schale auf den Tisch, nahm meinen Lederbeutel und leerte ihn aus. Die Tafeln glitten heraus und fielen in meine Hand. Mit zitterndem Zeigefinger berührte Lillia Charras Andenken, zog einen abgenutzten Stoffbeutel, den sie an einer Schnur um den Hals trug, unter ihrem Gewand vor, öffnete ihn und zog noch eine Totentafel heraus, die der von Charra genau glich.
    »Als meine liebe Mutter starb – sie möge im Garten der Götter wandeln –, habe ich zwei davon anfertigen lassen«, sagte sie. »Ich wusste, dass er Euch, kaum dass sie tot war, würde loswerden wollen, und musste Euch eine Verbindung zu Eurer Familie geben. Zu mir.« Sie strich abermals sanft über die Tafel. »Er hatte Angst vor Charra.«
    Ich bekam einen bitteren Kloß im Hals. »Sprecht Ihr von meinem Vater?«
    Lillia lachte angespannt auf. »Nein, nicht von Eurem guten Vater. Charra liebte ihn, als wäre er ihr eigener Vater gewesen. Nein, er ertrank in den furchtbaren Stürmen im Jahr des Schweins. Erinnert Ihr Euch nicht mehr?«
    Ich schüttelte den Kopf und ein schmerzlicher Ausdruck glitt über ihr Gesicht.
    »Es tut mir leid«, sagte ich.

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