EONA - Das letzte Drachenauge
Kopf. »Bereitet der Osten sich vor? Haben sie das Land verheert?«
»Nach gut fünfhundert Jahren ohne die Segnungen eines Drachen gibt es dort nicht mehr viel zu verheeren. Doch alles wurde Euren Befehlen gemäß erledigt«, erwiderte Tozay. »Seine Männer werden keine Nahrung finden. Die Stämme legen Karten an und erkunden abgeschlossene Gegenden.«
»Abgeschlossene Gegenden?«, fragte ich.
»Gebiete, die nur durch enge Schluchten oder auf schmalen Pfaden zu erreichen sind«, erklärte Kygo. »Dort können schon wenige Männer mit Aussicht auf Erfolg ein Heer angreifen.«
Ich beugte mich vor. »Wie wenige sind wir denn genau?«
Kygo warf Tozay einen Blick zu.
»Viereinhalbtausend«, sagte der Meisterfischer. »Und zwei Drachenaugen.«
Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Selbst Ido wird womöglich keine fünfzehntausend Männer töten wollen«, wandte ich ein.
Tozay hörte auf zu rudern und sah sich zu mir um. »Das wird er, wenn Ihr ihn dazu zwingt.«
Meine Kehle war so trocken, dass ich schlucken musste. »Und wenn ich das nicht tue?«
Tozays Miene wurde hart. »Lady Eona, als Ihr in mein Boot gestiegen seid, während der Palast hinter uns brannte, habt Ihr gesagt, Ihr wollt Euch dem Widerstand anschließen. Was habt Ihr Euch darunter vorgestellt?«, fragte er und warf einen Blick auf den verkohlten Hang. »Das Wachstum der Feldfrüchte zu beschleunigen?«
»Schluss, Tozay«, fuhr Kygo ihn im Befehlston an. »Für den Treueeid gibt es einen guten Grund. Es ist besser, wenn es Lady Eona schwerfällt, dagegen zu verstoßen, als wenn sie damit keinerlei Probleme hätte. Wir wollen schließlich nicht noch so ein machthungriges Drachenauge wie Lord Ido, oder?«
Der schneidende Unterton in seinen Worten ließ mich erstarren. Vielleicht war ich doch nicht ganz losgesprochen.
Der Meisterfischer drehte sich wieder um und ruderte weiter. Der Rumpf der Dschunke tauchte vor uns auf, und eines der runden weißen Augen am Bug beobachtete unser Herannahen wie ein erschrockenes Pferd. Ich presste die Handflächen aneinander, und das bevorstehende Wiedersehen mit meiner Mutter ließ die grimmige Kriegshetze vorübergehend in den Hintergrund treten.
»Wie ist sie, Meister Tozay?«, brach ich das lastende Schweigen. »Meine Mutter, meine ich. Hat sie etwas über mich gesagt?«
»Lillia redet nicht viel«, erwiderte Tozay barsch. »Aber Ihr seid in Gesicht und Körperbau das Ebenbild Eurer Mutter.« Er zog die Ruder ein letztes Mal durch das Wasser, und wir glitten zu der Strickleiter längsseits der Dschunke. »Doch das seht Ihr gleich selbst.«
Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Leute, die von der Reling herabschauten. Durch die Schiffslaternen hinter ihnen waren sie nur schemenhaft zu sehen und ich konnte keine Einzelheiten in den Gesichtern und an den Körperformen erkennen. Es gab allerdings eine kleine, schmächtige Gestalt, die genauso intensiv Ausschau hielt wie ich.
Ein Seemann kletterte flink die Leiter herab in unser Boot und seine ehrerbietige Verbeugung brachte unsere Nussschale zum Schwanken. Er übernahm die Ruder, während Kygo die Leiter hinaufstieg und alle Leute von der Brüstung verschwanden, als der Kaiser an Bord ging. Ich folgte ihm, und dicht hinter mir kam Tozay. Die schaukelnde und ruckelnde Reise die Holzsprossen hinauf dauerte – dessen war ich mir sicher – nur wenige Sekunden, und doch kam es mir vor, als hätte ich eine geschlagene Stunde dafür gebraucht.
Starke Hände zogen mich an Deck. Mit einem raschen Blick nahm ich einige raue Gesichter und wettergegerbte Haut wahr, bevor sich alle vor Lady Drachenauge verbeugten. Drei Reihen Männer und eine weibliche Gestalt knieten da mit gesenktem Kopf und warteten darauf, dass ich sie aufstehen hieß.
»Erhebt euch«, sagte ich mit brüchiger Stimme.
Lillia richtete sich auf, und unsere Blicke begegneten sich. Ich sah Angst und Hoffnung und ein angestrengtes Lächeln, in das zehn Jahre Trennung eingeschrieben waren. Tozay hatte recht: Ich war das Ebenbild meiner Mutter.
Lillia presste sich gegen die Trennwand, als der Decksjunge ein Tablett auf den angeschraubten Tisch in Meister Tozays Kommandokajüte stellte. Als alle an Bord waren, hatte der Meisterfischer Lillia und mich in diese geräumige Kabine geführt, wo wir ungestört waren, und auf dem Weg unter Deck Tee für uns bestellt. Wir waren an dem abgeschlossenen Abteil vorbeigekommen, in dem Lord Ido bereits eingekerkert saß, und der Wächter hatte
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