Epicordia
Tür und Lord Hester
folgte ihr, um hinter sich die Tür zu schlieÃen.
Sie betraten eine Gasse vor einem kleinen Parkplatz.
Gelbes Licht nächtlicher StraÃenlaternen umgab sie, wie es in GroÃstädten nun einmal
der Fall war. Der Parkplatz war leer. Eine Reihe Platanen wuchs in einem
quadratischen Beet, das von hellen, aber wettergegerbten Steinen begrenzt
wurde. Die Raben verteilten sich geschwind auf die Ãste der Bäume. Dahinter lag
eine vierspurige StraÃe, deren Verkehr sich um diese Tageszeit (oder wohl besser Nachtzeit) mehr oder minder in
Wohlgefallen aufgelöst hatte. Und hinter der StraÃe lag ein breiter Fluss.
Dreihundert, vielleicht vierhundert Meter entfernt befand sich das
gegenüberliegende Ufer, dessen Lichter sich im schwarzen Wasser des Flusses
spiegelten. Vor allem die des Riesenrads, das hoch über den Dächern wie ein
Heiligenschein leuchtete.
Lara erkannte es sofort.
»Das London Eye «, bemerkte sie. »Wir sind also in London.«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte sie hinzu:
»Und was tun wir hier?«
Lord Hester trat neben sie.
»Wir besuchen jemanden, der uns vielleicht helfen
kann. Es ist nur eine Spekulation, aber ich glaube beinahe, er könnte sich als
wertvoller Mitarbeiter entpuppen.«
»Mitarbeiter?«
»Aber ja doch, Lara«, entgegnete der Rabenlord. »Noch
habe ich keine Ahnung, wie man den Sturmbringern oder gar Roland Winter ein
Schnippchen schlagen könnte. Aber wir haben heute zwei oder drei Verabredungen,
die mir hoffentlich dabei helfen, eine Lösung zu finden.«
Er stieg den Gehweg hinab
und überquerte den Parkplatz, dann die StraÃe in Richtung Fluss. Sein Mantel
flatterte gespenstisch im nächtlichen Sommerwind und Lara folgte dem Rabenlord.
Gemeinsam blieben sie an der Promenade des Themseufers
stehen und blickten über ein eisernes Geländer hinweg auf die dunklen Wasser
und die energiegeladene Stadt dahinter.
»So viele Millionen Menschen leben hier«, flüsterte
Lord Hester. »Glaubst du, jeder, der eine besondere Begabung hat, findet seinen
Weg nach Ravinia?«
Lara hatte noch nie darüber nachgedacht. Es war eine
seltsame Vorstellung. Sie war gewissermaÃen ein wenig unfair, denn Lord Hester
hatte selbstverständlich recht. Niemals würden alle Menschen mit besonderen
Gaben die Möglichkeit bekommen, nach Ravinia zu gelangen. Wer das Glück hatte,
jemanden zu kennen oder gefunden zu werden, war äuÃerst privilegiert. Das zeigte sich schon allein am Stadtbild Ravinias. Die
düstergoldene Stadt am dunklen Fluss war hauptsächlich durch westliche
Einflüsse geprägt. Dort war die Tradition der besonderen Begabungen einfach am
stärksten durchgeschlagen â nicht nur, indem
Begabungen dort häufiger vererbt wurden, sondern auch, weil es mit dem
aus westlichen Verhältnissen geschaffenen Ravinia ja eine Kultur darum gab. Kinder
mit besonderen Begabungen fielen nicht einfach bloà auf, sondern es gab auch
Leute, die wussten, was man mit ihnen tun konnte und wo man sie hinstecken
konnte, auÃer in eine Anstalt.
Und plötzlich bekam Lara eine Ahnung davon, was Tom
früher gemeint hatte, als er viele Fragen und Ungerechtigkeiten stets mit
»Schicksal« kommentiert hatte. Es war Schicksal. Schicksal, das sich manches
Mal nur Zufall nennt, so wie Berrie es ausdrückte. Es war egal. Durch
irgendeine Fügung hatte sie, Lara McLane, zur richtigen Zeit die richtigen
Leute getroffen und war nun, was sie war. Mit all ihrer Freude und all ihrem
Leid.
Bedächtig schüttelte sie den Kopf.
»Nein«, sagte sie schlieÃlich leise. »Wir sind
Glückspilze im Vergleich zu anderen.«
»Und dennoch haben wir unsere eigenen Probleme«,
sinnierte Lord Hester weiter. »Und wir können nicht behaupten, diese Probleme
wären nicht von Belang oder gar Luxusprobleme. Ganz im Gegenteil, sie sind
furchtbar. Und furchtbar wichtig.«
Lara driftete ein wenig
ins Philosophieren ab. Damit lieÃen sich so leicht die frischen Wunden in ihrer
Seele überdecken.
»Wie eigenartig die Welt doch zwischen gerecht und
ungerecht aufgeteilt ist«, wunderte sie sich. »Manche Leute sind überaus
begabt, manche weniger und viele gar nicht.«
»Und nicht nur das«, ergänzte Lord Hester. »Die
überaus Begabten sind es, die so häufig immer nach noch mehr und nach noch
Höherem streben.«
»Ist das nicht
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