Epicordia
natürlich?«, fragte Lara.
»Sagen wir mal, es gibt
gewisse Grenzen. Dinge, die â egal mit welcher Begabung und auf welchem Weg
erlangt â nicht getan werden sollten. Wer durch das, was er vermag, zu tief in
die Gefüge der Welten, von denen er nichts versteht, eingreift, der richtet
unweigerlich Schaden an. Vielleicht ist der Schaden nur gering, vielleicht wird
ihn niemals jemand bemerken. Doch vielleicht gibt es auch einen
Schmetterlingseffekt.«
»Sie meinen, Roland Winter tut mitunter Dinge, die
niemand tun sollte? Egal zu welchem Zweck?«
»Ja«, sagte Lord Hester. »Genau das denke ich. Manche
Dinge gehen zu weit, greifen zu weit ein in den unsicheren Balanceakt von
Zufällen oder Schicksalen, der uns umgibt.«
Lara antwortete nicht darauf. Der alte Rabenlord hatte
ihr eine Menge zu denken gegeben und sie wollte versuchen, langsam die ersten
Knoten aus dem Knäuel von Rätseln zu lösen, das sie umgab.
SchlieÃlich setzte Lord Hester sich wieder in
Bewegung.
»Komm«, meinte er. »Die Person, der wir hier in London
einen Besuch abzustatten haben, wohnt nicht weit von hier.«
10. Kapitel, das irgendwo zwischen Improvisation und Glück im Unglück schwebt.
»Wenn Sie mich fragen«, sagte der kleine Mann zu
Shadow, »sind Sie so etwas wie ein Monster. Habe ich recht?«
 Neil Gaiman
â Szenenwechsel.
Der Mondpalast war kein Haus, um
Träume zu verwalten.
Ganz im Gegenteil. Er war ein
Sanktuarium, ein Rückzugsort, geschaffen nur für einen einzigen Zweck:
Abgeschiedenheit.
Der Wahrsager Milton St. James
hatte ihn sich einst von Tom Truska entwerfen und bauen lassen. Ãber den ganzen
Erdball verteilt hatte er Wohnungen und kleinere Immobilien besessen, die Tom
durch mehrere Dutzend Schlüssel vernetzt hatte. Miltons Diener Potifar war
schlieÃlich einzig und allein dafür bezahlt worden, immer nur die Türen zu
jenen Wohnungen und Räumen offen zu halten, in denen es gerade Nacht war und â besser
noch â in denen der Mond schien.
Die Idee des alten Wahrsagers war
nicht gänzlich neu gewesen, aber sie war seiner Abneigung gegen Sonnenlicht
geschuldet gewesen, die ihn in den letzten Jahren seines Lebens befallen hatte.
Abgeschaut hatte er seinen Traum
vom Mondpalast von der Dismas-Anstalt.
Die Anstalt war nicht besonders
groÃ, wohl aber sehr besonders. Sie beherbergte in diesen Tagen ungefähr ein
Dutzend Menschen, die sich in Ravinia eines Verbrechens schuldig gemacht hatten
und â das war eine der entscheidenden Voraussetzungen, um in der Dismas-Anstalt
einquartiert zu werden â begabt genug schienen, um aus normaleren Gefängnissen
auszubrechen.
Betrieben wurde die Anstalt von der
Stadt, beaufsichtigt gleichermaÃen durch das Kommissariat und durch die
Nachtwächter. Letztere zeichneten auch für die Bewachung verantwortlich â eine
gute Voraussetzung, um nahezu perfekte Ausbruchssicherheit zu gewährleisten.
Aber dies war noch nicht alles. Die
»Zellen«, wenn man sie denn so nennen wollte, lagen auf allen Erdteilen verstreut
und waren â wie die Räumlichkeiten des Mondpalastes â nur über ein
ausgetüfteltes Netzwerk von Schlüsseln zugänglich. Darüber hinaus lagen die
einzelnen Zellen sehrâ⦠abseits. So gab es winzige, aber sehr ausbruchssicher
gestaltete Hütten in den Anden oder in entlegenen Wüsten, an Steilklippen oder
einfach in den endlosen Weiten der sibirischen Tundra.
Patrick Davenport stand missmutig
vor seinem Fenster und starrte hinaus ins Nirgendwo. Das Fenster selbst war mit
einem Netz aus Stahlstreben gesichert und bestimmt auch durch eine Reihe
unsichtbarer, wenn nicht gar magischer Sicherheitsvorkehrungen. Davor lag
etwas, das er mit etwas Mühe als mediterrane Landschaft eingeordnet hatte; erst
kürzlich hatte er ja Saint Tropez und die weiten Lavendelfelder der Provence
gesehen, und seine Umgebung zeigte eine gewisse Ãhnlichkeit damit â wenn auch
der Lavendel fehlte. Dies hier musste die karge Seite des Mittelmeerraumes
sein, wo auf versandeten Feldern einzelne drahtige Büsche der allerfrühesten
Morgensonne trotzten, die sich im Laufe des Tages in eine gleiÃende Brutlampe
verwandeln würde, um lebensverachtend vom Himmel hinabzustechen.
Er seufzte, weil er nicht schlafen
konnte. Zwar konnte man nicht behaupten, den Zellen von Dismas fehle es an
Bequemlichkeit â das Bett war sauber
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