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Epicordia

Epicordia

Titel: Epicordia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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Grund,
warum niemand etwas gegen die Besetzung der Tiefsten
Tunnel unternimmt?«, hakte Lord Hester nach.
    Â»Nein«, entgegnete
Francesco. »Das spielt sicher mit hinein, aber in erster Linie hält der
Großteil der Familien das tatsächlich für eine völlige Nebensächlichkeit. Die
Tiefsten Tunnel gehören niemandem und Nutzen haben sie auch keinen. Die meisten
fragen sich also, warum man deshalb einen Aufstand starten sollte.«
    Â»Ihr habt wirklich eine komische Mentalität«, bemerkte
Jasper.
    Â»Ist ja gut, ich hab’s verstanden, wir sind anders«,
grummelte Francesco.
    Ãœber ihnen krächzte ein Schwarm Raben im Segelflug
vergnügt vor sich hin.

    Breite Mauern, auf denen man
entlangflanieren konnte, nahmen in den letzten Jahren immer größere Bedeutung
in Lara McLanes Leben ein. Besonders die alte Hafenmauer von Lissabon natürlich,
zu der sie jederzeit mit Tom gelangen konnte, wenn es Dinge zu besprechen galt,
für die man eine ruhige Umgebung brauchte. Oder auch, wenn es Zeit war,
miteinander zu schweigen, denn das konnte man gut mit Tom.
    Auch die Stadtmauer von Ravinia hatte sich als guter
Ort erwiesen, wenn man seine Ruhe haben wollte und etwas Abstand brauchte. Denn
Lara hatte in den letzten Jahren gelernt, dass es äußerst angenehm war, von
Zeit zu Zeit einige stille Momente nur für sich allein zu haben.
    Nun stand sie auf den
Mauern des Mont Saint-Michel. Unter ihnen schwappten die kläglichen Wellen der Ebbe gegen die uralten
befestigten Mauerwerke aus grauem Stein.
    Lord Hester und Francesco waren allein unterwegs. Und
sie hatten recht behalten, denn unter den Strömen von Touristen, die den Felsen
um diese Stunde bevölkerten, fielen auch eigenartige Gestalten nicht sonderlich
auf. Lara blickte in die engen Gassen hinab, in denen uralte Häuser sich dicht
an dicht drängten. Es sah aus, als hätte man das Dörfchen, das sich in mehreren
Terrassen vom Fuß des Mont Saint-Michel hinauf bis auf etwa die halbe Höhe
schlängelte, einst im tiefsten Mittelalter vergessen, um es dann in der Neuzeit
für Touristenmassen einfach wieder aufzutauen und mit Souvenir-Shops zu
bestücken. Vermutlich würden Lord Hester und Francesco in ihrer angestaubten
Kleidung, dem Zylinder und der schwarzen Kapuze eher für Protagonisten eines
Mittelalterspektakels gehalten. Sie schüttelte den Kopf.
    Die Raben hatten sich in
Windeseile über den gesamten Felsen und diverse Bäume, Mauerkanten und
Dachgiebel verteilt – und den Tauben dort die Sitzplätze streitig gemacht sowie
große Teile der kreischenden Möwen vergrault.
    Francesco hatte sie
gebeten, dass sie ihn und den Lord in dieser delikaten
Angelegenheit nicht begleiteten. Selbstverständlich hatten sie sich dieser
Bitte gefügt. Jasper war daraufhin im Gewimmel verschwunden und Lara und
Patrick hatten die Festungsmauer erklommen, auf der es angenehm ruhig war. Die
Raben würden sie alle schon wieder zusammentrommeln, wenn Lord Hesters
Verhandlungen erfolgreich verlaufen waren – oder eben nicht.
    Nun standen sie hier und blickten auf die See hinaus.
    An der Stelle, an der sie standen, hatte die Mauer
keine Zinnen. Sie waren etwas höher gestiegen, weg von dem mittelalterlichen
Dörfchen am Fuße des Klosters. Zwischen ihnen und dem Meer lag eine völlig
zugewachsene Flanke des Felsens, der wirkte wie ein zugewucherter Garten.
    Still war es hier, ohne den Trubel. Kühl wehte der
Wind vom Meer zu ihnen herauf und ließ Laras bernsteinfarbene Locken flattern.
    Der helllichte Tag war eigentlich der falsche
Zeitpunkt, um einen Ort wie den Mont Saint-Michel aufzusuchen. Nicht, dass er
nicht auch jetzt ein malerisch schöner Ort gewesen wäre. Doch noch
beeindruckender war eigentlich ein nächtlicher Besuch. Denn erst in der Nacht,
wenn seine Lichter mit dem weiten Meer und den Sternen am Himmel zu einem
endlosen Lichtermeer verschmolzen, offenbarte der Mont Saint-Michel seine volle
Schönheit.
    Sie beugte sich über die Brüstung und sah an der Mauer
aus grauen Quadern hinab. Hier und da schickte sich eine Efeuranke an, die Mauer zu erklimmen, und viele Steine
waren von gelblichem Moos bedeckt. Wilder, rosafarbener Baldrian wuchs
zwischen den Steinen und verströmte einen milden, würzigen Geruch und den
Frieden aus jenen Zeiten, in denen nicht gekämpft worden war. Der salzige Duft
des Meeres tat sein Übriges, um Laras Seele zu

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