Epicordia
besänftigen.
»Es ist ein wenig wie auf der Stadtmauer«, sagte
Patrick, der sich neben ihr auf die Brüstung gestützt hatte und den Blick über
das Meer schweifen lieÃ. Auch sein Haar wurde von der maritimen Brise nicht in
Ruhe gelassen und verwehte in braunen Locken um seinen Kopf.
»Aber hier liegt das Meer jenseits der Mauer«, wandte
Lara ein.
»Und es gibt auch keine mysteriösen Brücken, die ins
Nirgendwo führen, das die Menschen verschlingt.«
Auch das war richtig. Ravinia war schon ein seltsames
Gebilde. Niemand wusste so richtig, wo es lag, doch Lara wurde den Eindruck
nicht los, dass es der einzige sichere Fleck in einer Umgebung war, die
feindlicher für Menschen ansonsten nicht sein
konnte. Und insgeheim schwor sie sich trotzig, dass sie irgendwann
einmal in Erfahrung bringen würde, was sich hinter den Verbotenen Brücken
befand. Oder zumindest würde sie eine Erklärung suchen, die halbwegs
zufriedenstellend klingen würde in ihren Ohren.
»Seltsame Zeiten, oder?«, hörte sie sich murmeln.
»Beunruhigende Zeiten, wenn du mich fragst«, stimmte
Patrick zu.
Lara drehte den Kopf, sah in seine Augen. Sie wusste
nicht mehr, ob sie die beiden verschiedenen Farben als beruhigend oder
verstörend empfinden sollte. Doch sie warenâ⦠faszinierendâ⦠und sie kamen
immer näherââ¦
Dann waren sie
verschwunden, da sie beide die Augen schlossen, während sich ihre Lippen
berührten. Sanft, wie der Seewind,
der ihnen die Haare zerzauste. Doch es gibt Momente, in denen könnte der
stärkste Hurrikan um zwei Menschen herum wüten, und sie würden es doch nicht
bemerken.
Lange. Eine kleine Ewigkeit.
So lange standen sie
später auf der Mauer, Trost und Halt in der Gegenwart des anderen suchend. Die Arme umeinander geschlungen und mit dem Blick in die Ferne,
auf irgendetwas gerichtet, was möglicherweise hinter den bevorstehenden Stunden
lag.
Lara nahm etwas in ihrem Augenwinkel war und löste
sich von Patrick, der in ihrem Rücken stand und die Arme um sie gelegt hatte.
Sie beugte sich vor, erneut über die Brüstung, und sah es zwischen zwei
knorrigen und arg verwurzelten Baumständen huschen.
»Ein Nimmerchen«, murmelte sie nachdenklich, nicht
wissend, ob sie sich über die kleinen, frechen Nager freuen sollte oder nicht.
Sie tauchten ja häufig an verwunschenen Orten auf undââ¦
»Nimmerchen stehen für schwere Zeiten«, sagte Patrick
dicht hinter Laras Ohr.
Sie drehte sich um.
»Ist es so?«, wollte sie wissen. Es sollte neckisch
klingen, aber Patrick fasste es wohl nicht so auf.
»Manche Leute sind felsenfest davon überzeugt.«
Lara küsste ihn.
»Es mag ja sein, dass die Leute recht haben«, hauchte
sie. Und sie wusste, dass es in schweren Zeiten gut war, sich an etwas
festhalten zu können. Schwere Zeiten hatten die Angewohnheit, an den Träumen
und Hoffnung der Menschen zu nagen, an ihnen zu fressen wie Feuer an einem
Bogen Papier.
»Schicksal«, murmelte Lara und wunderte sich, dass sie
ihren Gedanken laut ausgesprochen hatte.
Noch mehr jedoch wunderte sie sich darüber, dass in
diesem Augenblick keine Musik durch ihren Kopf
schwirrte. Kein Soundtrack zum eigenen Leben. Und sie war sich nicht
sicher, ob dies ein gutes Zeichen war oder ob es Schlechtes verhieÃ.
Doch sie war und blieb eine ewige Zweiflerin.
Es dauerte nicht mehr lange â oder zumindest
nicht mehr lange genug.
Das Nimmerchen hatte seinen Ruf nicht umsonst, das
wusste Lara, als ihnen durch lautes Rabengekrächze die Ankunft Lord Hesters
verkündet wurde. Er und Francesco flankierten eine dritte Person. Sie war
ebenso verhüllt wie Francesco, ging jedoch langsamer und sehr gebückt. Das
Alter musste dem Menschen unter dem schweren Umhang bereits deutlich zu
schaffen machen.
»Und?«, sie lief ihnen entgegen.
Francesco und der Rabenlord nickten bloà stumm.
»Dasââ¦Â«, begann Lara, »â¦Â ist gut, oder?«
Doch ein Blick in Lord Hesters Gesicht zeigte ihr,
dass irgendetwas nicht stimmte.
»Oder istâ⦠etwas nicht in Ordnung?«, hakte sie
vorsichtig nach.
»Krieg«, fuhr der gebeugte Alte plötzlich auf, »ist
niemals gut, Kind. Niemals !«
Die Worte lieÃen sie zurückprallen. Natürlich war
Krieg niemals etwas Gutes, was hatte der Mann vor ihr denn erwartet? Doch bevor
sie zu einer
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