Epicordia
seinem mechanischen Thron saÃ.
Langsam erhob er sich.
Derjenige, der sich von seinen Anhängern Grauer Lord hatte
nennen lassen. Das Aufstehen wirkte jedoch
keinesfalls schwerfällig oder gebrechlich und in gar keiner Weise
mühselig. Es war eine einzige flieÃende Bewegung â nichts war mehr geblieben
von dem nahezu zerstörten, nur knapp menschenähnlichen Wesen, das vor Jahren
dem Gemälde entstiegen war.
»Mein Lord, wartet!«, rief eine Stimme. Hinter dem
mechanischen Thron kam Dottore Lippi hervor, eilig, mit etwas in der Hand, das
einer gröÃeren Spritze ähnelte. Behände erklomm er den Unterbau des Thrones von
der Seite und hantierte an den Schläuchen herum, die Roland Winter mit dem
Thron verbanden.
»Lass das!«, knurrte der Graue Lord. »Sieh nach
Ruben!«
»Jawohl«, katzbuckelte der blasse Dottore und
entfernte sich von der unheimlichen Apparatur. Er drehte sich um und sein Blick
fiel erstmals auf Ruben Goldstein und die in Einzelteile zerlegte Kommissarin.
»Um Gottes willen«, hörte man ihn flüstern.
Der Thron hinter ihm klackte. Alle Schläuche glitten
auf einmal aus Winters Körper heraus.
Lara, Geneva und Patrick standen wie angewurzelt da.
Was gerade um sie herum geschah, wollte noch nicht voll und ganz in ihre
Gedanken vordringen. Doch was hätten sie auch tun können? Allein in einem Saal
von einer Höhle, zusammen mit einer Horde blitzgefährlicher mechanischer Männer
und dem mächtigsten Schreiber der Welt.
Winter fischte ein weiÃes Hemd von einem Haken rechts
neben seiner Armlehne, streifte es über und begann, die vorderen Knöpfe der
Reihe nach zuzuknöpfen.
»Du bist Lara McLane, nicht wahr?«, sprach Roland
Winter vor sich hin, ohne Lara dabei anzublicken. Stattdessen kümmerte er sich
um seine Manschettenknöpfe.
Lara schluckte, Schweià trat auf ihre Stirn. Dies hier
war der skurrilste Moment in ihrem Leben, schlimmer noch als Highgate.
»Aber natürlich«, fuhr Winter fort, mehr zu sich
selbst. Er zog ein dunkles Jackett über und strich es glatt. »Ich erkenne dich
wieder von unserer ersten Begegnung auf dem Friedhof. Du â«
Er hielt inne.
»â oder sagen wir mal, dein Vater hat mir vor
langer Zeit einige gröÃere Scherereien gemacht. Kleinigkeiten. Ãrgerlich, aber
nicht so sehr wie die Falle, die die alten Meister mir damals gestellt haben.
Aber reden wir nicht mehr
davon. Ich würde sagen, der Posten eines Mechanikers in meinemâ⦠Team ist gerade vakant geworden. Also falls du Interesse hastââ¦Â«
Es wirkte, als redete ein mächtiger Banker beiläufig
über ein paar kleinere Aktienkäufe.
»Sie â«
Lara wollte auffahren, es war ein Reflex, doch sie
brachte keine Worte mehr hervor. Völlig fassungslos versuchte sie das, was hier
gerade vor sich ging, irgendwie in ihren Verstand zu lassen. Doch sie war sich
nicht sicher, ob es ihr gelang.
»Und du siehst aus wie dein Vater, Junge«, meinte
Winter, während er an Lara vorbei auf Patrick blickte und sich das mit Grau
durchsetzte Haar zu einem Scheitel glattstrich.
Aus den Augenwinkeln konnte
Lara sehen, wie unruhig Geneva war. Die Nachtwächterin musste ihren ganzen
Willen aufbringen, um sich zu beherrschen. Alles andere hätte sicherlich ihren
sofortigen Tod bedeutet.
»Was wissen Sie denn schon
von meinem Vater?«, zischte Patrick verächtlich.
»Ah«, Winter rieb sich die Hände. Er schritt die
Stufen zu seinem mechanischen Thron hinab, ohne Patrick dabei aus den kalten
Augen zu lassen. » Dein Vater hat mir damals ähnlich
viel Ãrger gemacht wie Mr McLane.«
»Nur dass Sie ihn nicht
umgebracht haben?«, konterte Patrick scharf.
»Ich glaube, du missverstehst das alles«, sagte Winter
â und wurde unterbrochen.
Im Tunnel waren laute Geräusche zu hören. Einen Augenblick
später hetzten erst Francesco Bastiani und schlieÃlich Lord Hester in die Höhle
mit dem mechanischen Thron.
AuÃer Atem blieben sie stehen. Lord Hester hatte eine
breite, blutige Schramme über der Stirn. Seinen blauen Zylinder hatte er
verloren und sein Haar wirkte zerzaust.
Doch die Contenance des Rabenlords war beachtlich. Es
dauerte vielleicht eine oder zwei Sekunden, bis er die Szenerie, die sich ihm
bot, durchschaut hatte. Mit purer Willenskraft schien er seinen Atem zu
kontrollieren und strahlte sofort
Weitere Kostenlose Bücher