Epicordia
unrasierte Gesicht gezogen, sodass er die wachsamen grünen
Augen verdeckte. Er saà mit zerschlissener und mehrfach geflickter Jeans und
Lederjacke auf einem Hocker und lehnte sich an einen Stützbalken der Veranda,
während er einige einfache Akkorde auf einer
alten Martin & Co- Gitarre spielte, deren Schlagbrett vom vielen Schrammeln nur noch
teilweise vorhanden war.
»Ah, grüà dich, Junge!«, rief er mit einer Stimme, die
durch viele, viele Biere und Whiskeys eine dröhnende Tiefe erlangt hatte.
»Hey Barker, wie gehtâs?«
»Könnte besser sein. Wie immer. Aber die Musik hält
mich wach. Diese Songs wollen gespieltwerden.«
»Aye«, machte Lee und zog seine kleine Mundharmonika
aus angelaufenem Silber hervor, auf deren Unterseite William
Crooks â der Name seines Vaters â eingraviert war. Und sogleich
schmetterten sie zweistimmig Hey Porter zum Klang der
alten Westerngitarre, bis Lee den Song schlieÃlich mit einem stilsicheren
Mundharmonikasolo beendete.
Luke brachte ihnen eiskalte, selbst gemachte
Zitronenlimonade heraus und die Beschäftigung bis zum Nachmittag war gefunden.
Barkers Auftritt verlief insgesamt gelungen.
Rund anderthalb Stunden donnerte er in bester Johnny-Cash-Manier die alte
Folkmusik über den Platz. Er und Lee wurden jedoch eher als musikalische
Untermalung des Treibens unterhalb der hölzernen
Bühne interpretiert. Höflichen Applaus gab es nach jedem Song, aber
gesteigertes Interesse an der Musik zeigten nur wenige.
Lee jedoch hatte seinen
Spaà und mit einem Lächeln, gemacht
aus Zufriedenheit und Vorfreude auf den weiteren Nachmittag, half er Barker,
den Verstärker und die Mikrofone zurück zum Topf zu tragen. Das Wetter hatte immerhin
gehalten, was ein gutes Zeichen war. In Ravinia war das Wetter manchmal etwas
unberechenbar. War in Europa und Amerika Winter, war es in Ravinia oft angenehm
mild. Gegen Sommer wurde es zwar etwas wärmer, jedoch selten übertrieben heiÃ.
Dafür regnete es viel in Ravinia. Allgemein vermutete man, dass sich die
schweren Regenwolken zwischen den beiden Ufern des Flusses an den Hängen fingen
und dort abregneten. Genau erklären konnte es jedoch niemand.
Als sie wieder die Veranda des Topfes erreichten, schlich sich ein Bild in Lees Kopf. Er konnte sich nicht dagegen
wehren, es erschien einfach dort. Eine Vision. Das kam vor bei ihm und war Teil
seiner Begabung als Wahrsager. Doch anstatt sich wie früher davor zu fürchten,
tat er, was Berrie ihm gezeigt hatte: Er schloss die Augen, atmete tief durch
und konzentrierte sich auf das Bild, das sich in seinem Kopf formte wie eine
Skulptur aus schwerem Rauch.
Ein Mann in dunkler Kleidung an einer Häuserecke. Er
kannte die Ecke. Sicher. Sie war nicht weit von hier. Und schon verblasste die
Vision.
Solche Visionen waren so etwas wie Schicksal. Und Lee
vertraute auf sie. Denn ohne sie hätte er Lara damals nicht gefunden und wäre
niemals nach Ravinia gelangt. Dass eine solche Vision auch zu seinem Nachteil
sein konnte, daran hatte er noch nie auch bloà einen Gedanken verschwendet.
Er verabschiedete sich eilig vom alten Barker und
machte sich schnellen Schrittes auf in Richtung der Gasse, die er gesehen
hatte. Sie lag lediglich einen Steinwurf weit entfernt.
»Kommissar Falter«, begrüÃte Lee den Mann
fortgeschrittenen Alters, dessen wildes Haar ihn wie einen alten, zerzausten
Wolf wirken lieÃ. Er stand tatsächlich an derselben Ecke, die Lee gesehen
hatte. Natürlich, Visionen kamen recht selten vor, doch das Ergebnis verblüffte
den jungen Amerikaner immer wieder aufs Neue.
Hermann Falter jedoch bedeutete ihm mit einer
Bewegung, den Mund zu halten. Lee bemerkte, dass der Kommissar einen dunklen
Rollkragenpullover und Bluejeans trug. Eigentlich eher untypisch für ihn.
Vielleicht war er inkognito unterwegs?
Spot, Falters kleiner Jack-Russel-Terrier, würdigte
Lee keines Blickes, sondern starrte gebannt die Gasse hinab.
Seltsam. Wenn etwas in der Nähe des Rondells nicht mit
rechten Dingen zugehen sollte, wollte Lee wissen, was es war.
Er näherte sich dem Beamten.
»Kommissar Falter, stimmt etwas nicht?«, fragte er und
kam sich immer mehr vor wie in einem stilechten alten Western-Streifen.
Doch offenbar war der Kommissar nicht in derselben
blendend fröhlichen Laune, in der Lee sich befand. Er packte Lee mit einem Ruck
und drückte ihn mit einem Arm gegen die
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