Epicordia
gegen die vielen Schnitte der Glasscherben vermochte er so schnell irgendetwas
zu tun.
Erst jetzt erkannte Lara an den Proportionen des
Körpers, den er dort so verzweifelt in den Armen wog, was nicht sein durfte.
Hier nicht und überhaupt nicht auf der ganzen Welt.
Sie war wieder schwanger.
»Rose!«
Der infernalische Schrei hallte in Laras Kopf
nach, immer wieder, genau wie all der Schmerz der Welt, der mit ihm mitschwang.
Sie schüttelte den Kopf, um einen klaren Gedanken zu
fassen, um festzustellen, dass sie nicht mehr dort in der Wohnung am Ort dieses
grässlichen Unglücks war. Schwammen Tränen in ihren Augen? Konnte das sein?
Weinte sie etwa um das Schicksal dieses doch so bitterbösen Mannes?
Vorsichtig blickte sie sich um.
Sie war in einem Zimmer mit hoher Decke und hohen
Fenstern. Vielleicht lag es in einem Herrenhaus oder einem Schloss? Lara konnte
es nicht sagen in diesem Augenblick.
Sie hörte eine Stimme hinter sich.
»Meister MaâHaraz?«
»Ja, mein Lord?«
Lara drehte sich auf der
Stelle um. Und da erblickte sie ein Gesicht, von dem sie gehofft hatte, dass
sie es vergessen könnte. Irgendwann einmal. Doch sie konnte es nicht. Und noch
viel weniger jetzt, da sie hier war und das Antlitz jenes Mannes erblickte, der
für vieles, was in Laras Leben geschehen war, aber so nie hätte geschehen
sollen, die Verantwortung trug.
Roland Winter.
Auf einem lederbezogenen Sofa lag Joshua Mendel â oder
vielmehr Meister MaâHaraz. Lara wusste nicht, woher dieser Name kam, aber sie
war sich beinahe sicher, dass dieser damit sein altes Selbst zu vergessen
suchte. Er lag dort mit entblöÃtem Oberkörper. Am FuÃende des Sofas stand
Roland Winter und blickte zu ihm herab. Er war älter, als Lara ihn in
Erinnerung hatte, und ihr fiel ein, dass sie eigentlich gar keine Ahnung hatte,
wie alt Winter tatsächlich war. Seine Haare, die damals auf dem Friedhof von
Highgate noch schwarz gewesen waren, waren nun stark durch das Grau des Alters
verwaschen. Auch sein markantes Gesicht wies ein deutliches Mehr an Falten auf
als dasjenige, an das Lara sich erinnerte. Aber nichtsdestotrotz und ganz ohne
Zweifel war auch dieser Mensch, den sie hier sah, Roland Winter.
Dass er so alt gewesen war, hatte Lara nicht gewusst.
Die gefrorene Melodie, die ihm seinerzeit seine Jugend zurückgegeben hatte,
hatte offenbar ganze Arbeit geleistet.
Sie hörte ein Geräusch, blickte zur Seite und sah, wie
eine Windböe einen Schwall Regen gegen die dunklen Fensterscheiben blies.
DrauÃen herrschte ein richtig unangenehmes Wetter. Beinahe zum Fürchten. Ganz
und gar kein sanfter Herbstregen.
Ein glatzköpfiger Mann mit einem wilden Gesicht betrat
den Raum und schob einen Servierwagen vor sich her. Doch statt eines Snacks
oder eines Teeservices waren dort eigenartige Gerätschaften aufgebaut. Ein
Holzkasten mit mehreren Farbtuben sowie einige elektrische Apparaturen.
Niemand im Raum sagte auch nur ein Wort.
Der neu Hinzugekommene
rückte einen Sessel seitlich neben das Sofa, auf dem
MaâHaraz lag, und verdeckte Lara die Sicht, sodass sie näher herantreten
musste. Er hantierte mit seinen Gerätschaften herum und auf einmal wusste Lara,
was der Mann war: Tätowierer. Und vor sich sah sie alles, dessen es bedurfte,
ein sauberes Tattoo zu stechen.
Mit einem Tuch â wahrscheinlich in Desinfektionsmittel
getränkt â wischte er über MaâHarazâ Brust.
»Bereit?«, fragte er kurz angebunden.
MaâHaraz atmete entschlossen einâ⦠und nickte.
Roland Winter drückte dem
Tätowierer einen Zettel in die Hand, den dieser auseinanderfaltete.
Offensichtlich die Vorlage für das, was MaâHaraz von diesem Tag an für den Rest
seines Lebens auf der Brust tragen sollte.
Es überraschte Lara, als sie sah, um was es sich
handelte. Dann jedoch auch wieder nicht.
Ein Gedicht stand dort geschrieben auf dem Zettel. In
sehr altmodischer, jedoch gestochen scharfer und gut lesbarer Handschrift.
Beinahe druckreif wirkte dieses Schriftbild, das verlauten lieÃ:
Im Traume von einer anderen Welt
lässt mich das Feuer des Mutes nun
handeln,
in Treue die Mächtigen vor mir zu
wandeln.
So schwöre ich hiermit bei all
meinem Leben,
auf dass mein Bund hierin ewiglich
hält.
Ein Surren ertönte, als der Künstler seine
Tätowiermaschine startete, das sich bald monoton in das gedämpfte Geheul
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