Epicordia
Bitte Folge
geleistet haben.«
Er sah finster und irgendwie unbarmherzig drein. Noch
bevor Joshua Mendel etwas erwidern konnte, fuhr er fort.
»Grund ihres Besuches ist die Angelegenheit um ihre
Frau Rose.«
Joshua Mendels Augen hellten sich auf.
»Was
ist mit ihr?«, fragte er in einem Tonfall, der müde klang. Der Diskussion müde. Es schien, als wüsste er schon ganz genau, was der Ausgang des folgenden Gespräches
sein würde.
»Sie hat keine besondere Begabung, das wissen Sie.«
»Ja«, sagte Mendel schlicht.
»Und Sie wissen auch, dass es in Ravinia keinen Platz
für jemanden gibt, dessen einzigartige Fähigkeiten nicht dazu ausreichen, etwas
Besonderes herzustellen?«
Er wirkte verloren, wie er dort den mächtigen und
einflussreichen Stadträten gegenüberstand, unter Beobachtung von zehn
ungnädigen Augenpaaren.
»Ich wüsste nicht, dass es irgendwo geschrieben
stünde«, entgegnete er.
Wie konnten sie nur so kalt
sein? Lara war auÃerstande, es zu begreifen. Dabei hatte
sie vor allem Mama Zamora für eine im Grunde ihres Herzens gütige und
groÃmütige Frau gehalten.
Und gerade diese Frau ergriff nun das Wort. Schneidend
und erbarmungslos.
»Es ist ein ungeschriebenes Gesetz«, warf sie ein.
»Ravinia ist kein Ort für jedermann. Es hat seinen Grund, diese Stadt hat nur
begrenzt Platz zu bieten.«
»Nennen Sie mir jemandem, dem ich Wohnraum wegnehme.
Unser Nachbarhaus ist sogar unbewohnt.«
»Sie verstehen nicht, Joshua. Es geht um das Prinzip,
an das sich all die Jahrhunderte gehalten worden ist.«
»Genug«, unterbrach der erste Wortführer â und
offensichtlich der Vorsitzende â die Wahrsagerin mit einer Handbewegung.
»Junger Mann«, er sah Joshua Mendel direkt in die
Augen, und für eine Sekunde schien es so, als trügen sie einen stillen Kampf
voller Verachtung aus. »Der Stadtrat von Ravinia verfügt hiermit, dass Sie
Ihren Wohnsitz aus der Stadt hinausverlegen müssen. Zumindest solange Sie ihn
sich mit Ihrer Frau teilen. Schlimm genug, dass jemand wie Ihre Frau überhaupt
von der Stadt erfahren hat.«
Jemand wie Ihre Frau , hallte es in Laras Verstand nach.
Ihr war nicht auch bloà im Ansatz bewusst gewesen, wie
bedeutend diese Werte bei manchen Leuten in Ravinia tatsächlich waren â oder
welche Rolle sie zumindest einmal gespielt hatten. Was waren das denn bloà für
Menschen? War ihnen völlig entgangen, dass es auch für sie eine absolute Gnade
war, an diesem Ort leben zu dürfen?
Ja, so musste es sein. Lee hatte gesagt, das hier sei
eine Erinnerung. Wenn dem so war, dann musste sie aus einer Zeit stammen, in
der man nicht bloà abschätzig auf Leute wie Stadtvaganten herabgesehen hatte.
Nein, anscheinend war man sogar gegen sie vorgegangen.
Lara schauderte. Wenn sie überlegte, wie alt MaâHaraz
bei ihrem letzten Aufeinandertreffen gewesen war und wie alt er zum Zeitpunkt
der Erinnerung vor ihr warâ⦠dann mochte diese Erinnerung vielleicht vor
zwanzig Jahren stattgefunden haben. Diese Leute hatten zum Teil immer noch das
Sagen in der Stadt â und ihre überhebliche und unbarmherzige Einstellung
erschütterte Lara zutiefst.
Sie verfolgte das Geschehen
weiter. MaâHaraz â oder der Jemand, der er früher einmal
gewesen war â rückte wieder in ihren Fokus.
»Ich schätze, es ist mir nicht mehr gestattet,
Einwände hervorzubringen?«
MaâHaraz â da war er gebrochen und resigniert, nicht
düster und überheblich. Was Menschen doch für bewegte Geschichten hatten.
»Gehen Sie, Mr Mendel. Diese Entscheidung ist
getroffen worden.«
Er winkte MaâHaraz hinaus, der sich ohne Widerspruch
mit hängenden Schultern und einem Seufzer von den beiden Nachtwächtern wieder
hinauseskortieren lieÃ. Unter den Blicken einer entsetzten Lara.
Als die Tür des Ratssaales krachend in ihre
schweren Schlösser fiel, befand Lara sich schon wieder an einem anderen Ort.
Dies war eines der alten Häuser von Ravinia. Sie erkannte das Fachwerk und den
Putz an den Wänden, der immer kurz vor dem Abbröckeln zu stehen schien.
Langsam begann sie, tief in die Geschichte des Mannes
einzutauchen, den sie als so unendlich grausam kennengelernt hatte. Nein, halt,
der so unendlich grausam war . Er entführte Menschen.
Eigentlich unglaublich, dass das Leben einen Menschen derart
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