Epicordia
Hester ein Mysterium, ein
immerwährendes Geheimnis. Niemand wusste so recht um die Funktion des
Rabenlords, auch Tom und Lara konnten sie nur erahnen. Tatsache war, dass ihm
die Raben der Stadt gehorchten. Jeder einzelne. Selbst Dexter, der sich seinen
gefiederten Genossen nicht besonders verbunden fühlte und der ebenfalls bei Tom
und Lara im Torhaus wohnte, hatte nie einen Zweifel daran aufkommen lassen,
dass er sofort zur Verfügung stünde, riefe Lord Hester nach ihm. Doch davon
hatte der Lord in den vergangenen zweieinhalb Jahren abgesehen.
Darüber hinaus besaà der
Rabenlord neben seiner natürlichen Ausstrahlung eine groÃe Autorität. Niemand,
auch nicht der Stadtrat, würde es wagen, Lord Hester kein Gehör zu schenken.
Zwar war er kein Monarch, doch â ja, was war er eigentlich?
Sie hatten um den Tisch in der groÃen Halle unten im Bergfried
der alten Burg Platz genommen und Lord Hester hatte ihnen Tee serviert. Und er
hatte sie erzählen lassen. Lange und ausführlich. Mit ernster und
konzentrierter Miene hatte er zugehört, während über ihm auf Balken und
Leuchtern ab und an ein Rabe gekrächzt hatte.
SchlieÃlich war er
aufgestanden und mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf und ab gelaufen.
»Das sind keine angenehmen Neuigkeiten«, sinnierte er
vor sich hin.
Niemand antwortete darauf. Was hätten sie auch sagen
sollen?
»Einverstanden. Ich werde den Stadtrat informieren und
ihm den Ernst der Lage begreiflich machen.«
Er blieb stehen und blickte ernst in die Runde.
»Dennoch verdienen die Sturmbringer auch unsere
Anerkennung für ihren Plan. Unseren Respekt beinahe, wenn auch auf eine sehr
absurde Art und Weise«, stellte er mit einem erschreckenden Anflug von Zynismus
fest. »Wir können in Epicordia nicht intervenieren. Wie auch? Und das wissen
sie genau. Eigentlich weià es jeder. Aber wenn sie über einen Kontakt nach dort
unten verfügen, der ihnen hilftâ⦠jemanden, der sie quasi unter den Augen des
Mondvolks vorbeischleust, dann müssen wir anerkennen, dass das leider ziemlich
brillant ist.«
»Können wir dieses Mondvolk nicht zur Kooperation
zwingen?«, schaltete Alisha sich vorsichtig ein.
Lord Hesters Blick streifte sie, nicht unfreundlich,
aber doch sehr bestimmt.
»Nein, Mrs. Folders, können wir nicht. Wir sind keine
Kämpfer. Darüber hinaus â«
»Was ist mit den Nachtwächtern?«
»â wäre es absolut unangemessen und unrecht, selbst
wenn wir könnten.«
Alisha holte Luft, um zu wiederholen, was ihr
eingefallen war, aber Lord Hester brachte sie mit einer Handbewegung zum
Schweigen.
»Die Nachtwächter«, stellte er klar, »sind zu wenige.
AuÃerdem muss es immer eine Seite geben, die sich an die moralischen Regeln
hält.«
»Ach ja?«, fuhr Alisha auf.
»Und was ist mit diesen Sturmbringern? Dürfen die etwa alles? Sie haben damals
Layla umgebracht und ihren Mann, einfach so, ohne Rücksicht auf â«
Sie verstummte abrupt, als ihr bewusst wurde, dass
Lara sich mit ihr im selben Raum befand. Schnell hatte sie sich wieder
hingesetzt und hielt betroffen den Mund.
»Sie waren bei unserer letzten Begegnung mit den
Sturmbringern nicht dabei«, antwortete Lord Hester ihr. Ruhig, beherrscht und
ohne aufzubrausen, jedoch mit einer Spur von bitterer Ironie in der Stimme.
»Das letzte Mal hat die illustre Liga auÃergewöhnlich meisterlicher Gentleman
um Baltasar Quibbes herum selbst die Regeln missachtet, wie Sie dennoch wissen
sollten. ZugegebenermaÃen waren sie nicht die Einzigen, auch die Nachtwächter
haben einen entscheidenden Teil dazu beigetragen, indem sie ihnen eine Menge
Zeit verschafft haben. Aber darf ich bitte daran erinnern, was geschehen ist?
Anstatt die Stadt langfristig zu beschützen, haben sie ein noch gefährlicheres,
noch skrupelloseres Monstrum erschaffen als das, das sie bereits weggesperrt
hatten. Damals war das Glück, das pure Glück auf unserer Seite. Doch wer wei�
Vielleicht haben die Sturmbringer ihre Ziele auch ohne Führergestalt nicht
aufgegeben.«
Alisha sah wenig überzeugt aus.
»Das mag ja sein«, nahm sie den Gedankengang auf.
»Aber wie sollte es den Sturmbringern gelingen, den Stadtrat zu stürzen und die
Stadt zu veranlassen, sich ihnen zu beugen?«
»Wissen Sie noch, wie sie es damals angegangen sind,
Ms
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