Epicordia
beiden ahnt. Er sollte sich nicht derart verausgaben â oder zumindest
noch nicht. Er ist verletzt und müde. Und er weiÃ, dass seine Sorgen bei mir in
guten Händen sind. Vielleicht wird er also doch das ein oder andere Auge zutun.«
»Und was machen wir nun?«, wollte Lara wissen und biss
sich sofort auf die Unterlippe, hatte es doch provokativer geklungen, als es
sollte.
Das Lächeln auf Lord Hesters Gesicht verschwand nicht.
»Werdet müde!«, empfahl er ihnen und Lara vermied es,
noch einmal nachzuhaken. Wahrscheinlich hatte der Rabenlord recht. Doch ahnte
Lara, dass auch seine Gelassenheit nicht vollständig echt war. Aber das war nun
egal, denn er hatte recht: Ihre Sorgen waren bei ihm vorübergehend gut
aufgehoben.
So lieà der Rabenlord sie allein auf dem Hof stehen.
Er hatte Alisha Folders einen Platz zum Schlafen in einem der leer stehenden
Häuser der Burg angeboten, den diese überrascht und dankbar angenommen hatte.
Lara indes hatte nicht einmal geahnt, dass Lord Hester so etwas wie Gästezimmer
überhaupt haben könnte.
»Und jetzt?«, fragte sie Patrick.
Der blickte sie durch seine verwuschelten Haare, die
ihm wild in die zweifarbigen Augen fielen, an. Er lachte nicht dabei, aber er
wirkte nicht unglücklich mit der Situation. Ganz und gar nicht.
Und ebenso erging es ihr.
»Ich müsste einmal bei mir zu Hause vorbeischauen,
wenn ich schon in Ravinia bin«, sagte er an.
»Okay«, erwiderte Lara nur und so verlieÃen sie Seite
an Seite den Hof in Richtung Oberstadt.
Doch unverhofft kommt oft, besagte ein
Sprichwort.
Anstatt in Richtung
Innenstadt zu laufen, bogen sie gleich nach der Brücke, die von der Burg in die
Oberstadt hinüberführte, links ab und folgten einer StraÃe durch das
Villenviertel.
Lara fiel auf, dass sie hier noch nie gewesen war,
obwohl sie seit Jahren auf dem Nachhauseweg an diesem Abzweig vorbeilief. Das
Villenviertel der Oberstadt hatte sie nie sonderlich interessiert. Sie wusste,
dass das Kommissariat sowie die Wache hier oben waren, aber ansonsten sahen die
groÃen Villen, die teilweise schon kleinen Schlössern ähnelten, für sie alle
gleich aus. Natürlich waren auch ihr die verschiedenen architektonischen Stile
bewusst und auch, dass einige Villen noch viel gröÃer waren als andere, die
beinahe nur bessere Wohnhäuser waren. Doch sie war in den letzten beiden Jahren
zu sehr davon geprägt worden, dass hier oben der sogenannte Stadtadel hauste.
Einflussreiche Familien von Menschen mit besonderen Talenten, die es vorzogen,
unter sich zu bleiben. Man munkelte gar, dass
es im Laufe der Jahrhunderte soweit gekommen sei, dass nahezu jede
Familie mit jeder über irgendeine Ecke verwandt war. Arrogant sollten sie sein,
sich für etwas viel Besseres halten. Und nachdem Lara in Joshua Mendels
Erinnerung das Tribunal gesehen hatte, das der Stadtrat vor einigen Jahren
offensichtlich noch abgehalten hatte, damit Menschen ohne besondere Talente
keinen Zugang zur Rabenstadt erhielten, fand sie viele dieser Vorurteile
bestätigt.
Aber angesichts dieser
Vorurteile schien es auch umso erstaunlicher,
dass Patrick von hier stammen sollte. Patrick Davenport,
der auf seine Weise ganz und gar nicht so zu sein schien, wie man es sich vom
Adel erzählte â und wie er sich Lara in MaâHarazâ dunkler Erinnerung offenbart
hatte.
Das letzte Haus am Ende der StraÃe war eine geräumige,
wenngleich auch nicht furchtbar protzige Villa. Ein groÃes, wohl ehemals weiÃes
Haus, das selbst in der sommerlich späten Abenddämmerung noch gut zu erkennen
war. Es war deutlich kleiner als die umliegenden Villen, aber dennoch gröÃer als
die meisten Häuser, die Lara kannte. Im Gegensatz zu den umstehenden Häusern
wirkte dieses jedoch nicht besonders stolz, sondern eher ein wenig traurig. Das
Haus war im viktorianischen Stil erbaut worden und der Putz zeigte feine Risse.
Moos wuchs auf dem Dach und umschmiegte Teile von Giebeln und kleinen
Spitzdächern, die entstanden sein mussten, als hier oder dort im Laufe der Zeit
einmal mehr ein Raum oder ein zusätzlicher Gang angebaut worden war. So lag es
da, das Davenportâsche Haus, hinter einem gusseisernen Zaun und einem groÃen
Garten, dessen Rasen zwar gemäht war, aber auch nur das. Büsche und Sträucher
wuchsen wild, wirkten beinahe verwunschen und streckten ihre Fühler nach den
Nachbargärten
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