Epsilon
für einen Psychopathen. Er machte sich nichts daraus. Er fing deswegen keinen Streit an. Im Gegenteil, vielleicht entsprach es sogar der Wahrheit, und das Beste war, es zu seinem Vorteil zu nutzen. Immer positiv denken!
Ein Schmerzensschrei – der letzte »Freiwillige« fiel unbeholfen auf die Matte und brauchte Hilfe, um wieder hochzukommen. Es war ein Deutscher, und nun trat ein Engländer an seine Stelle. An den verschiedenen Antiterror-Kursen nahmen regelmäßig auch Ausländer teil, meist Engländer, Franzosen und Deutsche, manchmal auch andere. Sie nannten es das Austauschtraining. Sowohl die SAS, die GSG-9, die GIGN als auch die GIS konnten von der Delta Force, der amerikanischen Antiterror-Einheit, und der Devgroup, ehemals die Navy-SEALS, etwas lernen, aber auch viele eigene Erfahrungen einbringen. Die Antiterror-Einheiten aus der ganzen Welt arbeiteten so eng zusammen, wie die Geheimdienste es sich in den Tagen des Kalten Krieges nie zu träumen gewagt hätten.
Charlie selbst war weder Mitglied der Delta Force noch der Devgroup, obwohl er mit beiden trainiert und gedient hatte. Die Einheit, der er jetzt angehörte, hatte keinen Namen, keine erkennbare Hierarchie und keinen namentlich bekannten Anführer. Alles, was er von ihr wusste, waren die Befehle, die er erhielt. Kein anderes Mitglied war ihm bekannt, außer dem Mann, den er »Control« nannte. Und Control kam zu Charlie, niemals umgekehrt. Wie immer auch der Name der Truppe lautete und wo immer sich ihr Hauptquartier befand (falls überhaupt eins existierte), Charlie wusste es nicht.
Der Ausbilder blies zweimal in seine Pfeife, um das Ende der Stunde zu signalisieren. Die Männer aus den verschiedenen Einheiten und Ländern hatten getrennte Umkleideräume. Mitglieder einer Gruppe kamen zusammen an und gingen auch wieder zusammen. Freundschaften wurden im Keim erstickt.
Charlie zog seinen Trainingsanzug an und brach auf. Den anderen Männern nickte er nur kurz grüßend zu. Draußen ging er zu seinem Porsche, den er im Schatten eines Überhangs geparkt hatte, wo er vor der brütenden Sonne Kaliforniens geschützt stand. Am Tor zeigte er seinen Ausweis vor, die Wache salutierte, und er verließ das hoch gesicherte Gelände Richtung Norden. Eine Stunde später war er wieder in Los Angeles.
Er parkte seinen Wagen auf dem reservierten Platz neben dem Apartmenthaus und nahm den Lift zu seiner Wohnung. Als er sie betrat, wurde er vom goldenen Glanz der über dem Ozean untergehenden Sonne begrüßt. Charlie blickte auf die Uhr. Carol würde in einer Stunde kommen. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er daran dachte. Er ging zur Bar in einer Ecke des Zimmers hinüber, nahm sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und öffnete den Verschluss.
Carol. Carol mit oder ohne »e«? Und wie zum Teufel war noch mal ihr Nachname? Wagradsky? Waginsky? Nein. Wazinsky? Verflucht, das konnte zu peinlichen Situationen fuhren, wenn man den Namen eines Mädchens einfach so vergaß! Obwohl es ihr vermutlich nicht einmal etwas ausmachen würde. Carol war angenehm im Umgang, eine Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Und sie war direkt. Sie hatten sich vor zehn Tagen in einer Bar kennen gelernt, und nach ein paar Drinks hatte sie selbst vorgeschlagen, irgendwohin zu gehen, um zu vögeln. Sie hatte einen traumhaften Körper. Alleine beim Gedanken daran verspürte Charlie bereits ein Ziehen in der Lendengegend. Wenn er nicht schnell an etwas anderes dachte, würde er sich Abhilfe verschaffen müssen, bevor Carol eintraf, und das wollte er nun wirklich nicht.
Nicht dass es irgendwie seine Leistungskraft beeinträchtigen würde. Sie würden trotz allem übereinander herfallen, sobald sie das Apartment betrat, wie es bisher immer der Fall gewesen war. Danach würden sie sich wieder anziehen und etwas essen gehen, vielleicht zu dem kleinen italienischen Lokal unten, und später wieder in die Wohnung zurückkehren.
Charlie beschloss, sein Bier draußen auf der Terrasse zu trinken und zuzusehen, wie die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Er setzte sich, legte die Füße auf die Balustrade und beobachtete, wie das Meer langsam zu schmelzen und sich in einen riesigen Bottich flüssigen Goldes zu verwandeln schien. Charlie war für Farben empfänglich und machte in seinen Gemälden großzügig Gebrauch davon. Dennoch konnte er sich seltsamerweise an keine einzige Farbe aus seiner Kindheit erinnern. Es war, als existierten seine frühesten
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