Epsilon
Geschichte umzusetzen, die er dann wie andere Menschen auch in seinem Gedächtnis speichern könnte. Das Einzige, woran er sich erinnert, ist das, was er gelernt hat, bevor die Krankheit ihn befiel. Seine gesamte Vergangenheit blieb in seinem Gedächtnis erhalten – seine Kindheit, die College-Zeit, seine Heirat, gefolgt von seiner beruflichen Karriere als Englischlehrer an der High School. Doch mit dem Ausbruch der Krankheit hat sich eine unüberbrückbare Kluft zwischen der Vergangenheit und dem gegenwärtigen Augenblick aufgetan – und jedem Augenblick, der folgt. Gleichzeitig blieben seine intellektuellen Fähigkeiten unbeeinträchtigt, was das Verständnis von Sachverhalten betrifft. Er begreift zum Beispiel die Natur seines Zustandes problemlos, wenn man sie ihm erklärt. Das Problem besteht darin, dass er die Erklärung gleich wieder vergisst. Er kann nichts mehr lernen, da er nicht dazu in der Lage ist, Wahrnehmungen im Gedächtnis zu speichern.«
Sie hielt einen Moment inne. Trotz all ihrer Erfahrung in Lehrveranstaltungen und bei Vorlesungen fiel es ihr nicht leicht, vor Publikum zu sprechen. Es kam ihr stets so vor, als wäre sie dann ihrer Persönlichkeit beraubt, als sei sie vor all diesen erwartungsvollen Gesichtern nicht länger sie selbst, sondern bloß noch ein Ventil für all die Informationen, die sie weiterzugeben hatte. Immerhin, so versuchte sie sich zu beruhigen, führte das zu einem gewissen Verlust an Befangenheit, der ihr half, ihre angeborene Scheu zu überwinden. Susan trank einen Schluck aus dem Glas, das vor ihr auf dem Tisch stand, und fuhr dann fort:
»Als ich vor etwa sieben Jahren zum ersten Mal zu diesem Fall hinzugezogen wurde, hatte Brians Zustand sich seit Beginn seiner Krankheit nicht verändert. Ich zeige Ihnen jetzt eine Aufzeichnung von einer Begegnung Brians mit seiner Frau aus dieser Zeit, also etwa dreizehn Jahre, nachdem der Virus ihn befallen hat.«
Das Bild auf dem Schirm zeigte Brian erneut in einem leeren, anonymen Zimmer, jedoch nicht in demselben wie bei der vorangegangenen Aufzeichnung. Eine andere Krankenschwester öffnete die Tür, und Dorothy betrat den Raum. Sie hatte sich verändert – nicht allzu sehr, doch jemand, der glaubte, sie zuletzt erst am Tag zuvor gesehen zu haben, konnte bei ihrem Anblick erschrecken. Und genauso erginge es Brian, erklärte Susan ihren Zuhörern. In seiner Erinnerung war Dorothy dreizehn Jahre jünger. Nun erblickte er eine Frau, deren Haar bereits grau wurde, mit Falten um Augen und Mund. Brian erstarrte und trat erschrocken einen Schritt zurück.
»Mein Gott, Liebling! Was ist passiert? Bist du krank?«
Das Auditorium sah schweigend zu, wie Dorothy ihm erneut seinen Zustand erklärte, mit denselben Worten, die sie schon Tausende Male benutzt hatte. Brian nickte, hörte sich alles an und beschwerte sich dann voller Ärger und Verzweiflung, warum ihm nicht geholfen werde und warum man ihm das alles nicht schon früher erklärt habe.
Susan betätigte den Schalter, um die Aufzeichnung zu stoppen. »Und nun möchte ich Ihnen zeigen, wie Brian seine Frau heute begrüßt, wenn sie ihn besucht.«
Die Aufzeichnung zeigte Brian und Dorothy, wie sie heute aussahen. Sein Verhalten, als sie den Raum betrat, war genau das gleiche wie vor zwanzig Jahren: Freude, Verwirrung und schließlich Wut. Er stellte Fragen über sich und die Lage, in der er sich befand, zeigte aber keinerlei Schrecken mehr angesichts des »plötzlichen« Wandels, der mit Dorothy vor sich gegangen war.
»Das Verfahren, das wir entwickelt haben«, erklärte Susan, als die Lichter im Auditorium wieder angingen, »stellt keinen chirurgischen Eingriff dar, erlaubt uns aber, Bilder unter Umgehung des Auges unmittelbar in sein Gehirn einzuspeisen, wie man zum Beispiel auch bei bestimmten Hörhilfen das Ohr selbst umgeht. Das Verfahren erlaubt uns auch, den Teil seines Gehirns zu umgehen, der unter normalen Umständen Sinneswahrnehmungen in Erinnerungen umwandelt. Leider sind wir noch weit von einer vollständigen Heilung entfernt, aber es ist ein Anfang. Beim nächsten Mal werden wir uns mit einigen der Wege beschäftigen, die vielleicht zu einer Heilung führen. Danke.«
Die Hörerschaft löste sich auf. Die meisten verließen leise den Saal, nur eine Hand voll Freunde sammelte sich um Susan.
Ein Mann blieb, unbemerkt von den anderen, alleine neben der Tür stehen. Er war klein, schmalgesichtig und machte einen nervösen Eindruck. Sein schütteres graues Haar war
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