Epsilon
einem Drehbuch, das sie eben erst erdacht hatte, hinüber zum Fenster und blieb dort stehen. Susan schritt durch eine weitere Tür und betrat einen Korridor.
Während sie ihn entlangging, erhaschte sie in einer Glastür einen Blick auf ihr Spiegelbild, sah, wie sie mit der würdevollen Anmut einer Frau daherschritt, die im siebten Monat schwanger war. Zumindest war es bei ihr so. Oder um noch genauer zu sein: Sie empfand es als würdevolle Anmut. Andere mochte es vielleicht eher an das Watscheln einer Ente erinnern. Wahrscheinlich hätte sie es früher sogar selbst so gesehen. Doch nun, zum ersten Mal schwanger und glücklicher als je zuvor in ihrem Leben, erschien ihr würdevolle Anmut als einzig passende Beschreibung ihres Ganges.
In einem kleinen, kahlen Nebenraum rechts am Ende des Korridors saß auf einem schlichten, rechteckigen Sofa eine Frau um die fünfzig, mit ergrauendem Haar und einem Gesicht, das früher einmal schön gewesen sein musste, nun aber von tiefen Sorgenfalten gezeichnet war. Sie blickte ängstlich auf, als Susan sich ihr näherte.
»Alles in Ordnung, Dorothy. Wenn Sie so weit sind…«
Die Frau nickte stumm und stand auf. Dabei presste sie die Handtasche, die bisher auf ihrem Schoß geruht hatte, fest an sich, als spendete sie ihr ein wenig Mut und Zuversicht für diese schmerzlichen, zweimal pro Woche stattfindenden Begegnungen. Die beiden Frauen machten sich auf den Weg zurück durch den Korridor.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte die ältere Frau mit einem Blick auf Susans gerundeten Bauch.
»Ach, Sie wissen ja – mal gute Tage, mal schlechte. So, wie es sein soll. Zumindest wenn man der Fachliteratur Glauben schenken darf.«
Dorothy lächelte. »Wissen Sie schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«
»Ein Junge.«
»Und haben Sie schon einen Namen gefunden?«
»Christopher. Nach meinem Schwiegervater, der letztes Jahr verstorben ist. Und als zweiten Vornamen Amery, nach meinem Vater. Es ist ein alter germanischer Name – ursprünglich Almerik – der mit der Eroberung durch die Normannen nach England gekommen ist. Offensichtlich gelangte er zuvor irgendwie nach Frankreich und wurde dort zu Amery abgewandelt. Aber wir werden den Jungen Christopher rufen.«
»Ein netter Name. Christopher hat mir immer gut gefallen.«
Sie betraten das Zimmer, in dem der Pfleger noch immer vor dem Monitor saß. Ein Kollege, den Susan vom Sehen kannte, hatte sich zu ihm gesellt. Sie nickten sich kurz grüßend zu. Auf dem Monitor war Brian Kay zu sehen, wie er nach wie vor bewegungslos dastand und aus dem Fenster blickte.
Susan öffnete die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raums und ließ Dorothy den Vortritt. Brian drehte sich um, um zu sehen, wer gekommen war, und starrte die Frau, die da vor ihm stand, einige Augenblicke lang an, ohne dass sich auch nur ein Funke des Wiedererkennens auf seinem Gesicht zeigte.
Schließlich sagte Dorothy sanft: »Brian?«
Für gewöhnlich half ihm die Stimme auf die Sprünge. Ganz langsam dämmerte es ihm – und mit der Erkenntnis kam der Schock –, dass hier etwas Fürchterliches, Unerklärliches vor sich ging.
»Dorothy…?«
Unglauben ließ seine Stimme zittern. Die vollkommene Unfähigkeit, sich die Situation zu erklären, raubte ihm den Atem.
»Mein Gott, was ist passiert? Bist du krank? Dein Gesicht…!«
Und so begann Dorothy wieder einmal, ihn zu beruhigen und ihm die Situation zu erklären – wie jedes Mal, wenn sie den Mann besuchte, den sie liebte. »Das hier ist Dr. Flemyng. Sie versucht dir zu helfen, Schatz. Du musst Geduld haben.«
Brian sah Susan an, als beleidige ihn ihre Gegenwart. »Ich habe diese Frau nie zuvor in meinem Leben gesehen. Was meinst du mit; Sie versucht mir zu helfen? Mir helfen? Wie? Was ist hier los?«
Susan erwiderte seinen Blick mit einem freundlichen Lächeln, bereit, das mühselige Ritual erneut zu vollziehen. Doch tief in ihrem Innern gärte ein Gedanke, den sie noch niemandem gegenüber geäußert hatte. Sie selbst wagte kaum zu glauben, dass vielleicht – und nur vielleicht – die Idee, mit der sie in den letzten Wochen gespielt hatte, von Erfolg gekrönt sein könnte.
Es würde Zeit sowie eine Menge Fingerspitzengefühl und intensive Nachforschungen erfordern, doch vielleicht hatte sie die Schwachstelle gefunden, an der sie den eisernen Panzer von Brians Amnesie durchbrechen könnte.
ERSTER TEIL
1
Das Meer lag wie ein stahlgrauer Spiegel unter einem mondlosen Himmel. Erst als die Männer
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