Epsilon
Verletzungen am ganzen Körper, doch so, wie er in seinem Sarg lag, hätte er auch schlafen können. Zögernd nur, als gehorche ihre Hand einem Willen, der nicht ihr eigener war, streckte sie den Arm aus und berührte sein Gesicht. Obwohl man sie gewarnt hatte, versetzte ihr die Kälte einen tiefen Schock. Erst sehr viel später, als Christopher bereits schlafend im Bett lag, brach sie in den Armen ihres Vaters zusammen.
Zehn Tage vergingen, bis Susan darauf bestand, dass ihr Vater wieder nach Hause zurückkehren und sein gewohntes Leben aufnehmen sollte. Sie würde schon zurechtkommen; es ging gar nicht anders. Christopher besuchte wieder die Schule und lernte – ohne seinen Vater eine Sekunde zu vergessen – sich in einer Welt zurechtzufinden, in welcher der Tod für ihn viel früher Einzug gehalten hatte, als das normalerweise geschieht.
Susan brachte ihren Vater zum Flughafen. Beim Abschied an der Barriere sagte sie ihm, dass sie bis jetzt nie gewusst hätte, wie sehr sie ihn liebte.
Amery Hyde blinzelte eine Träne fort, und über sein vornehmes Gesicht huschte ein Lächeln – als wollte er sich irgendwie dafür entschuldigen, sie zu einer solchen Äußerung gebracht zu haben. Gleichzeitig war er so bewegt, dass er selbst keine Worte fand. Er küsste sie auf die Stirn, bevor er sich umdrehte und den Gang zum Flugzeug hinunterging. Er blieb nur einmal stehen, um ihr zuzuwinken, dann war er verschwunden.
Das vollbesetzte Auditorium verfiel in tiefes Schweigen, als Susan zum Podium hinaufstieg, jeder wusste von der Tragödie, die sich kürzlich in ihrem Leben abgespielt hatte. Viele hatten Beileidskarten gesendet und waren zur Beerdigung gekommen. Nun erklang bei ihrem Eintritt hier und da Applaus, und einige erhoben sich, unsicher, was in einer solchen Situation angebracht war.
Susan hob beide Hände und gebot Ruhe. Sie dankte für das ihr entgegengebrachte Mitgefühl und die Herzlichkeit vieler der ihr zugesandten Karten und fügte hinzu, dass sie, sofern niemand etwas dagegen hätte, gerne ohne weitere Umschweife mit der Vorlesung fortfahren würde. Dann bat sie darum, das Licht zu dämpfen.
»Als Erstes«, begann sie, »werden wir uns die Aufzeichnung von Brian Kay ansehen, wie er seine Frau begrüßte, als er vor fast zwanzig Jahren eingeliefert wurde.«
Der große Bildschirm hinter ihr flackerte auf. Er zeigte einen anonymen, weiß gestrichenen Raum, in dem der jung aussehende Brian Kay saß und abwesend ins Leere starrte. Eine Tür öffnete sich, und Dorothy wurde von einer Krankenschwester eingelassen. Dorothy war jung und hübsch, ihr dunkles Haar kurz geschnitten, was ihr Gesicht noch attraktiver machte. In dem Augenblick, in dem Brian sie sah, kam Leben in ihn. Er sprang auf und breitete die Arme weit aus, um sie zu umarmen, als wären sie monatelang getrennt gewesen.
»Liebling«, sagte er, und seine Stimme zitterte vor überschäumenden Gefühlen, »ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Ich wusste nicht, wo du bist. Ich habe geglaubt, dir wäre etwas geschehen. Ich dachte, du wärst tot.«
Dorothy beruhigte ihn und versicherte ihm, dass alles in Ordnung sei. Sie sagte, dass er sich wohl nicht daran erinnere, aber er hätte sie erst gestern gesehen.
»Gestern?«, hakte er ungläubig nach. »Wann gestern? Wo habe ich dich gestern gesehen?«
»Hier. Gestern früh, zur selben Zeit.«
»Wo sind wir denn? Was mache ich hier? Was geht hier vor sich?«
Geduldig erklärte sie ihm, dass er krank gewesen sei, dass er sich nun langsam erhole und bald wieder nach Hause zurückkehren würde.
»Krank? Ich war nicht krank. Was soll denn mit mir nicht in Ordnung sein?«
»Du hattest eine Virusinfektion. Sie hat dein Gedächtnis beeinträchtigt.«
»Mit meinem Gedächtnis ist alles in Ordnung.«
Susan drückte auf die Fernbedienung in ihrer Hand und hielt die Aufzeichnung an.
»Natürlich wissen wir, dass Brian sich nie so weit erholt hat, dass er nach Hause hätte zurückkehren können. Genau genommen hat sich sein Zustand von jenem Tage an bis heute kaum verändert. Ich glaube, die Einzelheiten der Viruserkrankung sind Ihnen alle vertraut, ebenso wie die Art des physischen Schadens, den sie verursacht hat. Sie beeinträchtigte jenen Teil von Brians Gehirn, der Sinneswahrnehmungen im Lang- und Kurzzeitgedächtnis speichert. Folglich ist er in einem ewigen Hier und Jetzt gefangen, ohne Möglichkeit, die Wahrnehmungen des Augenblicks in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, in eine Art
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