Epsilon
Leben. Ihm durfte nichts geschehen. Ebenso wenig wie ihrem Vater, falls sich herausstellen sollte, dass er so unschuldig war, wie sie inständig hoffte. Vielleicht war es ein Risiko, das einzugehen sie kein Recht hatte. Dieser Gedanke hatte sie unablässig gequält. Dennoch blieb sie tief in ihrem Innern davon überzeugt, dass das ihre einzige Chance war.
»Buzz – komm zurück! Buzz! Guter Hund, komm her, komm…!«
Christophers Stimme riss sie aus ihren wirren Gedankengängen. Susan blickte rechtzeitig genug auf, um ihren Sohn durch die Tür verschwinden und hinter dem kleinen Hund herlaufen zu sehen, der einen seiner gelegentlichen »Freiheitsausbrüche« unternahm, wie John sie immer scherzhaft genannt hatte. Es war ein Spiel, das der kleine Hund gerne mit Christopher spielte: eine atemlose Jagd, ein Versteckspiel rund ums Haus. Natürlich wählte er wie alle Hunde meistens den ungünstigsten Zeitpunkt für seine Eskapaden – zum Beispiel wenn sie irgendwohin aufbrechen wollten, sowieso schon zu spät waren und nun auch noch den Hund einfangen mussten. Aber nie zuvor, so fand Susan, als sie nun den beiden durch den Flur hinterherlief, hatte Buzz sich einen ungeeigneteren Augenblick ausgesucht. Wenn er jetzt verschwand, würde sie Christopher höchstens mit Gewalt von hier fortbringen. Und Gewalt war das Letzte, das sie anwenden wollte.
»Christopher, komm zurück! Wir haben keine Zeit! Buzz!«
Der Hund verschwand um eine Biegung, Christopher hinterher. Weder der eine noch der andere schenkte Susan auch nur die leiseste Beachtung. Sie jagte den beiden nach, bog um die Ecke und lief einen zweiten, noch längeren Flur hinunter. Der Hund hatte inzwischen die Nase dicht am Boden, als folge er einer Fährte. Am Ende des Flurs konnte Susan eine offene Tür und Tageslicht sehen und betete, dass etwas geschehen würde, bevor Buzz dorthin gelangte. Aber es geschah kein Wunder, niemand trat aus dem Schatten und versperrte dem kleinen Hund den Weg, kein Luftzug ließ die Tür im allerletzten Moment zuschlagen.
Plötzlich waren sie draußen, rannten an der Rückseite des Hauses entlang, dann auf die Ställe und verschiedene andere Nebengebäude zu und schließlich – dahinter – auf eine Scheune. Buzz hielt auf eine kleine Seitentür zu, die geschlossen war, sprang daran hoch und versuchte, sie zu öffnen, blieb jedoch erfolglos. Dann stellte er fest, dass Christopher ihn beinahe erreicht hatte und dabei war, ihn zu fangen, also schlug er einen scharfen Haken nach links. Eine schlechte Entscheidung, denn nach wenigen Metern wurde ihm der Weg von einem Zaun versperrt. Susan und Christopher kamen näher und kreisten ihn ein. Buzz gab ohne Gegenwehr auf, wie er es am Ende seiner kleinen Eskapaden immer machte, zufrieden, seinen Spaß gehabt zu haben, und nicht daran interessiert, dass irgendjemand wirklich böse auf ihn wurde.
Susan hob ihn auf den Arm und bestand trotz Christophers Protesten darauf, den Hund selbst zu tragen. Und in diesem Augenblick sah sie plötzlich etwas, nur ganz kurz, eine flüchtige Silhouette hinter einem schmutzigen Fenster weiter hinten m der Scheune: Es war ihr Vater. Er hatte sie nicht gesehen, da war sie sich sicher. Er schien sich aufgeregt mit jemandem zu unterhalten und gestikulierte heftig mit den Armen. Susan konnte nicht sehen, wer bei ihm war, aber sie wusste sofort, dass etwas nicht stimmte, sein Verhalten nicht mehr zu der Rolle passte, die er bis jetzt gespielt hatte. Er sah nicht länger wie ein Mann aus, der gefangen gehalten wurde. Etwas, das sie selbst bei dem kurzen Blick auf ihn registriert hatte, etwas in der Art, wie er sich bewegte, wie er redete, suggerierte Autorität. Er war dabei, Anweisungen, Befehle zu geben, Leuten zu sagen, was sie zu tun hatten.
Kalte Furcht griff nach ihrem Herzen, wie damals, als Charlie ihr gegenüber zum ersten Mal behauptete, ihr Vater sei nicht der, der er zu sein vorgab. Alles in ihr sträubte sich gegen diese Erkenntnis; und doch, wenn es zutraf, musste sie sich der Wahrheit stellen – und am besten sofort.
»Okay, nimm du ihn«, sagte sie und reichte den Hund an Christopher weiter. »Aber pass auf, dass er nicht wieder davonläuft.«
»Klar!«
Christopher nahm den Hund freudig entgegen und drückte ihn fest an sich, während Buzz ihm über das Gesicht leckte.
»Bring ihn zurück auf dein Zimmer, und sorge dafür, dass er dort bleibt. Ich komme in einer Minute nach.«
Sie sah dem Jungen nach, bis er mit dem Hund im Haus
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