Epsilon
West sich irgendwelche Illusionen machte. Er wusste, dass Charlie keine Waffe brauchte, um es ihn schwer bereuen zu lassen, wenn er nicht genau das tat, was von ihm verlangt wurde.
»So weit, so gut«, sagte Charlie, setzte sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. »Wenn Sie weiter so mitspielen, kommen Sie aus der ganzen Sache lebend heraus. Und was noch besser ist: lebend und vielleicht auch noch imstande, zu gehen, zu reden, zu sehen und zu hören.«
Charlie sah, wie West zusammenzuckte, und hatte erhebliche Mühe, ein amüsiertes Lächeln zu unterdrücken. Es war so leicht, die Leute in Angst und Schrecken zu versetzten. Natürlich half es, wenn sie wussten, dass man durchaus in der Lage war, das Angedrohte auch wahr zu machen. Leere Drohungen waren nutzlos. Doch niemand, einschließlich Charlie selbst, zweifelte daran, dass seine Drohungen ernst gemeint waren.
»Auf Sie wartet noch eine große Überraschung, wenn wir erst einmal angekommen sind. Eine größere, als Sie sich vorstellen können, Charlie«, sagte West, und das Zittern in seiner Stimme raubte den trotzigen Worten viel von ihrer Wirkung.
»Meine Überraschung dürfte wohl kaum größer sein als die von Amery Hyde«, entgegnete Charlie wie beiläufig und mit dem Anflug eines Lächelns.
Es war eine Bemerkung, die Latimer West beinahe die Augen aus dem Kopf treten ließ.
50
Gerade als sie einen leichten Galopp einschlugen, klingelte Michaels Handy. Er zügelte sein Pferd und nahm dabei den Anruf entgegen. Susan warf einen Blick zurück und sah, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten. Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass die Nachricht, die er empfing, Charlies Flucht betraf, und dass sie im Zuge der Sicherheitsvorkehrungen zurück zur Ranch beordert wurden.
Zur gleichen Zeit hörten sie das Dröhnen des zurückkehrenden Hubschraubers. Susan blickte nach oben und sah ihn in der Ferne, wie er sich langsam hinter die Bäume senkte. Sie hätte viel darum gegeben, zu erfahren, ob Michaels Anruf aus dem Helikopter kam oder nicht. Wie um ihren Verdacht zu bestätigen, gab Michael ihr ein Zeichen, langsamer zu werden und umzukehren. Susan rief nach Christopher, und zusammen ritten sie im kurzen Galopp zurück zu Michael, der das Handy wieder an den Gürtel gesteckt hatte und mit ernster Miene auf sie wartete.
»Tut mir leid, Chris – Befehle«, war alles, was er sagte, als Christopher sich über die frühzeitige Umkehr beklagte.
»Aber warum?«
»Das kann ich dir nicht sagen, Chris, weil ich es nicht weiß. Tante May sagt, dass wir auf der Stelle zurückkommen sollen, also müssen wir das auch tun.«
Mrs. Hathaway?, fragte sich Susan. Oder Amery Hyde? Sie schloss die Augen, um den Schmerz zu mildern, den dieser Verdacht in ihr hervorrief, öffnete sie aber wieder, als sie hörte, wie Christopher sich an sie wandte.
»Sag’s ihm, Mama. Sag Michael, dass du noch nicht zurück willst.«
»Mach jetzt keinen Ärger, Schatz«, erwiderte sie sanft. »Wenn Mrs. Hathaway sagt, dass wir zurück müssen, dann gibt es dafür sicher einen guten Grund.«
»Du hörst besser auf deine Mama, Chris. Los!«
Auf dem Rückweg musterte Susan Michael mit beinahe klinischem Interesse. Als Christopher zu diskutieren begonnen hatte, hatte etwas an Michaels Reaktion sie an ihre früheren Arbeiten erinnert. Vor Jahren hatte sie Menschen behandelt, die in die Fänge von Sekten geraten waren. Viele von ihnen hatten ein ganz spezielles Persönlichkeitsbild gezeigt – die gleiche Offenheit, der gleiche oberflächliche Charme, den sie auch bei Michael feststellte. Doch sobald man diese Menschen herausforderte oder sie irgendwie verärgerte, verschlossen sie sich sofort gegen ihre Umwelt. Susan konnte es an Michaels Gesicht ablesen, an seiner ganzen Körperhaltung. Menschen wie er waren darauf programmiert, zu gehorchen. Wie Charlie.
Nur dass Charlie kein Mensch im eigentlichen Sinne war. Und außerdem stellte sich nun heraus, dass er durchaus einen eigenen Kopf besaß und diesen auch benutzte, was man von den meisten Sektenmitgliedern nicht behaupten konnte. Oder, wie Susan vermutete, von diesen sich so unmenschlich verhaltenden Leuten hier auf der Ranch.
Amery Hyde wartete auf der Veranda auf sie, als Susan und Christopher vom Pferd stiegen. Er sah angespannt aus, nahm sich aber zusammen, umarmte Christopher zur Begrüßung heftig und versprach ihm, später mit ihm zu spielen. Dann nahm er Susan in den Arm. Sie konnte die Anspannung seiner Muskeln spüren und
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