Epsilon
Tasche. Der Mann war bereit, Alarm zu geben, sobald etwas Verdächtiges geschah: In einem Lieferwagen dieser Größe konnte sich ein ganzes Überfallkommando verstecken. Doch der Mann entspannte sich, als nichts weiter zum Vorschein kam als mehrere Ständer gebügelter Kleider in Plastikfolie und Stapel von Wäschekörben.
Mit geübten Bewegungen, die nach jahrelanger Routine aussahen, beugte sich der Lieferant unter einen der Ständer mit Mänteln und Kleidern und hievte diese auf die Schulter. Zusätzlich packte er, bevor er wieder auf die Straße sprang, einen großen, rechteckigen Karton, der so gut wie nichts zu wiegen schien, und trug das Ganze durch eine Tür, auf der groß »Lieferanteneingang« stand.
Der Mann auf der anderen Straßenseite sah auf die Uhr. Auf den ersten Blick schien an dem ganzen Vorgang absolut nichts Verdächtiges, doch sollte der Fahrer nicht innerhalb von fünf Minuten wieder auftauchen, würde der Mann anfangen, sich Sorgen zu machen.
Im Gebäude wurde das Kleiderbündel auf Charlies Schulter lebendig, sobald er es nach vorne gleiten ließ. Der Mann, der sich zwischen den Kleidern verborgen hatte, landete leichtfüßig auf dem Boden. Er hatte in etwa Charlies Größe und war von ähnlicher Statur: Ihn zu tragen, als würde er beinahe nichts wiegen, hatte Charlie erhebliche Muskelkontrolle abverlangt.
Dasselbe galt für den Karton, der mit einem lauten Krachen auf dem Boden landete, als Charlie ihn losließ. Er übergab die Mütze, die er trug, an den Mann, der geduldig wartete, dann zog er seine Jacke aus und reichte auch diese weiter. Der Mann zog beides über und schritt schließlich durch die Tür, durch die Charlie ihn eben erst hereingetragen hatte.
Auf der anderen Straßenseite entspannte sich der Beobachter, als er den Lieferwagen davonfahren sah. Die Gegend war nun wieder ruhig. Es gab nichts Ungewöhnliches zu sehen. Eigentlich gab es überhaupt nichts zu sehen.
In der Zwischenzeit arbeitete Charlie hart. In dem Karton waren Seile, Haken und eine spezielle Kletterausrüstung, außerdem eine Heckler-und-Koch-10-mm-Maschinenpistole, ein .45er Glock-Revolver und ein Gurt mit Blitz- und Blendgranaten. Er zog das ganze Arsenal hinter sich in den Fahrstuhl und drückte den Knopf zum obersten Stock. Als er dort ankam, war er bereit, in Aktion zu treten.
Er wusste, wo sich die letzte kurze Treppe befand, die ihn zum Dach bringen würde. Man hatte keine Zeit gehabt, ihn mit den nötigen Schlüsseln auszurüsten, also stemmte er sich einfach gegen das verschlossene und verstärkte Oberlicht, bis dieses nachgab, und kletterte schließlich auf das flache Dach hinaus.
Gegenüber dem Hoteleingang war ebenfalls eine Wache postiert. Das Erste, was dieser Mann sah, war eine Gestalt, die sich vom Dach in die Tiefe stürzte, offensichtlich ein Selbstmörder. Es dauerte eine Weile, bevor er erkannte, dass die Gestalt an einem Seil hing, das sich hinter ihr abrollte und schließlich spannte. Bis der Wachposten sein Handy hervorgezogen und begonnen hatte, die richtigen Tasten zu drücken, war der tollkühne Akrobat bereits gegen die Wand geprallt. Obwohl er seine Flugbahn so ausbalancierte, dass er den Aufprall mit den Füßen abfangen konnte, hätte ihm die Wucht alle Knochen im Leib brechen müssen. Doch er stieß sich erneut ab und fiel weitere sechs Stockwerke tief, beinahe schneller, als das Auge ihm folgen konnte. Wieder stieß er sich von der Wand ab, diesmal um zur Seite zu schwingen, und nun hielt er eine Waffe in der Hand.
Der Mann auf der anderen Straßenseite hatte keine Zeit, auch nur ein Wort in sein Telefon zu sprechen, da erfüllte auch schon das Klirren von zerberstendem Glas und Maschinenpistolenfeuer die Luft. Nur Sekunden später senkte sich eine unwirkliche Stille auf die Szenerie herab. Der Wachposten wusste, dass seine Kameraden tot waren, ihre Mission gescheitert. Sein einziger Trost bestand in der Tatsache, dass er selbst und die anderen sechs Mitglieder des Teams, das Rückendeckung gegeben hatte, überlebt hatten und den Kampf eines Tages wieder aufnehmen konnten.
Erst als Sirenengeheul und das Dröhnen von Helikoptern die Stille durchbrachen, erkannte er seinen Irrtum. Er hörte seine Kameraden schreien. Einer hetzte um eine Häuserecke zwei Blocks entfernt. Ein Schuss fiel und fällte den Mann.
Der Wachposten drehte sich um und rannte in Richtung der Treppe, die, wie er wusste, in eine Seitengasse führte, seine beste Chance zu entkommen. Doch er hatte noch
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