Epsilon
nur sagen, dass sie bisher keinen von uns getötet haben, und sie scheinen es auch nicht unbedingt darauf anzulegen, wenn es sich vermeiden lässt.«
Susan warf ihm einen seltsam fragenden Blick zu. »Ist das wirklich dein Eindruck?«
Amery erkannte, dass er vorsichtig sein musste, doch Vorsicht war ihm im Laufe seines Lebens zur zweiten Natur geworden. Er sah sein Verhalten gerne als eine Art Respekt vor den Gefühlen und Empfindlichkeiten anderer Menschen an. Nicht jeder war in der Lage, den harten Realitäten des Lebens ins Auge zu blicken, und zweifellos gehörte seine Tochter zu diesen Menschen. West hatte ihr, wie er wusste, vorgeworfen, im Elfenbeinturm zu leben, und nach Amerys Ansicht war das nicht ganz falsch. Dennoch tat er, wie eben jetzt, alles in seiner Macht Stehende, um zu verhindern, dass man seine Tochter aus ihrer behüteten, realitätsfernen Welt riss, bevor sie bereit dazu war. Er wusste, dass einige Leute weder willens noch in der Lage waren, sich jemals der ganzen brutalen Realität zu stellen. Und er hatte sich schon lange eingestehen müssen, dass Susan trotz all ihrer Brillanz möglicherweise zu diesen Leuten gehörte.
Andererseits glaubte er, als er ihr zuhörte, eine Veränderung an ihr wahrzunehmen, eine Art Perspektivenwechsel; und zum ersten Mal seit vielen Wochen wagte er zu hoffen, dass alles, wofür er so hart – und manchmal verzweifelt – gekämpft hatte, nun endlich zum Greifen nah war.
Susan sprach ruhig, doch mit einer Bestimmtheit, die darauf hindeutete, dass sie lange und gründlich über alles nachgedacht hatte. Die Entscheidung, zu der sie gelangt war, ließ sich in wenigen Worten ausdrücken. Doch sie legte Wert darauf, dass ihr Vater den Entwicklungsprozess verstand, der sie zu dieser Entscheidung geführt hatte.
Amery hörte ihr aufmerksam zu und ließ sie nur dann kurze Zeit aus den Augen, wenn er hin und wieder ernst und zustimmend nickte.
»Ich habe meine Ansicht über Latimer West nicht geändert«, erklärte sie ihm, »und ich nehme kein einziges Wort zurück, das ich über ihn oder die Stiftung gesagt habe. Dennoch, jetzt, da ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, muss ich zugeben, dass er in einigen Dingen durchaus Recht hatte und es für das Handeln der Pilgrim-Foundation eine gewisse Rechtfertigung gibt. Es ist richtig, dass das, was getan werden kann, auch getan werden wird. Das ist unvermeidlich, eine Art Naturgesetz, und Kategorien wie Richtig oder Falsch sind da kaum angebracht. Moralische Debatten sind letzten Endes nicht mehr als eine Fußnote ganz am Schluss. Moral kontrolliert die Entwicklung nicht, beeinflusst sie nicht einmal wesentlich. Ich habe inzwischen eingesehen, dass dieses ganze Programm weiterbetrieben worden wäre, mit oder ohne meine Beteiligung. Es hat nun einmal mich getroffen, meine Arbeit kam zufälligerweise zur rechten Zeit. Andernfalls hätte es irgendjemand anderen getroffen.«
Sie hielt inne und hob den Blick, um ihrem Vater in die Augen zu sehen, leicht stockend angesichts dessen, was sie als Nächstes sagen wollte. Amery wusste, wie wichtig ihr seine Meinung war. In Augenblicken wie diesen fragte er sich, wie er das Spiel so ausdauernd hatte spielen können, das er all sein Leben als Erwachsener betrieben hatte – ein Leben im Dienste des höchsten Geheimdienstes seines Landes, und das auf allerhöchster Führungsebene. Er hatte vieles getan, was sein Gewissen belastete, und dazu gehörte nicht zuletzt die Tatsache, dass er seine Frau bis zu ihrem Tode und seine Tochter bis heute belogen hatte. Er liebte beide, wie ein Mann seine Familie nur lieben konnte, das war seine feste Überzeugung. Verschwiegenheit gehörte zu seinem Job, doch niemals hatte er es zugelassen, dass sie einen Keil zwischen ihn und seine Familie trieb. Niemals war er Kompromisse eingegangen, die das Vertrauen zwischen Mann und Frau oder Vater und Tochter in irgendeiner Weise zerstört hätten. Wie seine Frau reagiert hätte, hätte sie die Wahrheit gewusst, dessen war er sich nie sicher gewesen; er wusste jedoch, dass Susan ihn niemals verstanden hätte. Sie hatte schon immer ein instinktives Misstrauen Autoritäten gegenüber empfunden, auch wenn er sich nicht erklären konnte, warum. Sie war keine Anarchistin oder geborene Rebellin, sie war einfach nur der festen Überzeugung, dass Macht korrumpiert und man ihr daher stets mit Misstrauen und Vorsicht begegnen sollte. Amery hatte Susans Ansichten immer respektiert und nur selten mit ihr darüber
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