Epsilon
verstehen, warum sie ihn fragten. Er war Susans Vater; von ihm erwartete man, dass er beurteilen konnte, was sie dachte, dass er sofort erkannte, wann sie die Wahrheit sagte und wann nicht. Amery räusperte sich – und verfluchte sich augenblicklich für diesen Fehler: Es war ein Zeichen dafür, dass er zweifelte, ein Eingeständnis, dass er sich alles andere als sicher war. »Ich glaube«, begann er, »dass sie die Wahrheit gesagt hat. Immerhin: Warum sollte sie lügen? Sie will zu ihrem normalen Leben zurückkehren – und zu ihrem Sohn. Und sie wird auf jeden Handel eingehen, der dazu erforderlich ist.«
Dabei ließ er es bewenden. Diesen Leuten sagte man besser zu wenig als zu viel. Nur selten kam es vor, dass Amery Hyde sich eingeschüchtert fühlte, doch diesem Gremium gegenüber war es geradezu unvermeidlich. Es bestand aus fünf Mitgliedern im Alter zwischen dreißig und knapp über siebzig. Auch im Aussehen unterschieden sie sich stark: Einer von ihnen sah wie ein Anwalt aus, ein anderer wie ein Professor im zerknitterten Tweed-Anzug, mit wirrem, rotem Haar; der dritte – der, der über siebzig war – legte das vornehme Auftreten eines Diplomaten an den Tag und fungierte inoffiziell als Vorsitzender der Gruppe. Der vierte Mann war Mitte bis Ende vierzig und kam Amery wie ein Beamter vor, der die Diskussion zwar nicht leitete, jedoch dafür verantwortlich zu sein schien, dass man zu einem Konsens kam.
Das fünfte Mitglied, die einzige Frau, war Amery Hyde ein Rätsel. Ihren unvoreingenommenen, präzisen Fragen nach hätte sie Wissenschaftlerin sein können; doch mit ihrem breiten, rotwangigen Gesicht und dem seltsam zögerlichen Lächeln glich sie eher einer Pfadfinderin, wie man sie auf einer Bergtour inmitten einer Gruppe Gleichgesinnter antreffen mochte.
Amery kannte keines der Mitglieder persönlich und wusste nur, dass sie von niemandem gewählt wurden und niemandem gegenüber Rechenschaft schuldig waren. Das bedeutete, dass sie über uneingeschränkte Macht verfügten. Dies waren die Leute, die das Undenkbare dachten und dann entschieden, was zu tun war. Menschen wie sie existierten in jeder Gesellschaft, es hatte sie immer gegeben, und es würde sie immer geben, obwohl keine Gesellschaft es je offen zugeben würde.
»Und sie will es auch Ihnen zurückgeben.«
Die Frau hatte gesprochen. Amery sah sie verständnislos an, überrascht, als die Stille nach so langem Schweigen gebrochen wurde.
»Ihr Leben«, erklärte die Frau und schenkte ihm ihr seltsames, beinahe orientalisch-unergründliches Lächeln. »Es geht Dr. Flemyng auch um Ihr Leben.«
»Ja, natürlich. Aus ihrer Perspektive gehört auch mein Leben zu ihrem alten Leben.«
Die Frau wandte sich an den Mann links von ihr, dann an den vornehmen Diplomaten zu ihrer Rechten. Was immer auch wortlos zwischen ihnen abgestimmt wurde, es schien alle drei zufrieden zu stellen. Die beiden Übrigen signalisierten ihre Zustimmung durch ihr Schweigen.
»Nun gut«, sagte der Diplomat, »lassen Sie uns für den Augenblick auf dieser Grundlage weitermachen. Wir gehen davon aus, Mr. Hyde, dass Sie uns umgehend darüber informieren, sobald die Lage sich irgendwie verändert. Ich bin sicher, Sie stimmen uns zu, dass das zurzeit der vernünftigste Kurs ist.«
Es waren höfliche, beinahe beruhigende Worte. Nichts an der Art, wie sie ausgesprochen wurden, deutete auf eine Drohung hin. Doch Amery wusste, dass Menschen, die wahre Macht besaßen, niemals Drohungen ausstießen.
Sie hatten es nicht nötig.
46
Außer Charlie und Dr. Flemyng befanden sich zwei Wachmänner im Labor. Sie saßen in verschiedenen Ecken, und jeder von ihnen hielt eines der kleinen schwarzen Geräte in Händen, das Charlie auf den leichtesten Knopfdruck hin augenblicklich außer Gefecht setzen würde. Charlie wusste, dass auch Dr. Flemyng einen solchen Zapper besaß, doch sie war zu sehr mit den Geräten vor sich beschäftigt, um es im Notfall schnell genug einsetzen zu können. Also saßen die Wachen da wie zwei Teenager vor einem Computerspiel in einer Spielhalle, die Augen fest auf die Szene vor sich gerichtet, bereit, den Knopf zu drücken, wenn ihr Einsatz kam.
»Schauen Sie mich nicht so vorwurfsvoll an, Charlie«, sagte Dr. Flemyng.
Charlie blinzelte. Er war sich nicht bewusst gewesen, sie in irgendeiner besonderen Art und Weise angestarrt zu haben. Er ließ einfach alles über sich ergehen, tat, was sie ihm sagte, weil er keine andere Wahl hatte, drehte sich mal in diese
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