ePub: Der letzte Zauberlehrling
ein Werhörnchen in die Kategorie Tiere einzuordnen ist.) Es war Zeit für einen geordneten Rückzug. Zumindest schien er meinen Geruch vorerst vergessen zu haben.
»Ach, nichts«, sagte ich. »Vergiss es.« Ich beugte mich vor und richtete den Kirchturm wieder auf. »Das hat auch nichts mit deiner Regenwolke zu tun.«
Bei der Erwähnung seiner Aufgabe verließ ihn seine Streitlust und seine Schultern sackten ebenso nach unten wie seine Gesichtszüge. »Ich werde das nie schaffen«, murmelte er.
»Du musst nur die richtige Einstellung finden«, versuchte ich ihn aufzumuntern. »Zaubern ist keine Hexerei, sondern eine Wissenschaft. Um Regen aus dem Nichts zu zaubern, brauchst du nicht die Kraft deiner Arme, sondern die deines Geistes.«
»Das sagt sich so leicht«, erwiderte er. »Aber wie wird aus der Theorie Praxis?«
»Du hast von Prometheus doch sicher einen Zauberspruch erhalten, oder?«
Der Junge nickte unsicher. »Es sind eher sinnlose Silben.«
»Dann stell dir vor, dass es in diesem Moment irgendwo in einem Universum eine winzige Regenwolke gibt. Nicht notwendigerweise in unserer Welt, sondern in einem der ungezählten parallelen Universen, die alle gleichzeitig existieren. Konzentriere dich auf diese Regenwolke. Stell sie dir vor, wie sie aussieht, welche Form sie hat, welche Farbe. Ist sie prall gefüllt mit Regen oder enthält sie nur ein paar kleine Tropfen? Siehst du sie?«
Der Junge hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich. Er nickte erneut.
»Dann sprich jetzt leise deinen Zauberspruch vor dich hin. Dabei musst du den richtigen Ton treffen. Beim Zaubern ist die Art, wie du etwas aussprichst, ebenso wichtig wie der Inhalt.«
Er begann, ein paar Silben vor sich hin zu murmeln. Ich hätte ihm jetzt erklären können, dass die exakte Kombination von Lauten, richtig ausgesprochen, ganz besondere Schwingungen hervorruft, die wiederum die Fähigkeit besitzen, die Dimensionsgrenzen zu durchdringen. Aber es hätte sein unterentwickeltes Menschenhirn wahrscheinlich mehr verwirrt, als ihm genutzt.
Während er die Laute wieder und wieder vor sich hin summte und sich langsam den richtigen Frequenzen näherte, öffnete ich leicht mein Maul und stieß ebenfalls einen Ton aus, der für den Jungen (wie für alle Menschen) nicht hörbar war. Man hatte mir zwar meine Zauberkraft genommen, aber nicht die Fähigkeit, die Beschwörungen von anderen zu lenken und zu unterstützen. Das hatte man offensichtlich nicht für nötig befunden, denn die Zahl der Menschen, mit deren Zaubersprüchen meine Laute harmonierten, war ausgesprochen gering. Genauer gesagt, sie tendierte gegen null. Aber ein Versuch konnte nicht schaden.
Und tatsächlich, in der Kombination mit seinem Gebrumm gelang es mir, einen magischen Effekt zu erzielen.
Allerdings völlig anders, als ich geplant hatte.
Sechstes Kapitel
in dem Humbert unfreiwillig die Bekanntschaft eines Hurwils macht und Lothar ein Geständnis ablegt
I ch stand mit zusammengekniffenen Augen vor dem Modell und intonierte den Regenzauber. Im Gegensatz zu dem, was viele Leute denken, ist Zauberei nicht mit viel Brimborium verbunden, sondern eine ziemlich nüchterne Angelegenheit. Das war eines der ersten Dinge, die mich Gordius gelehrt hatte. »Zauberei ist ein Handwerk. Nur Scharlatane arbeiten mit Nebel, geheimnisvollen Lichtern und Donnerknall«, pflegte er zu sagen.
Deshalb überraschte es mich ziemlich, als sich das Zimmer auf einmal verdunkelte und vor meinen Augen ein schwarzer Fleck in der Luft erschien. Das war nicht die Regenwolke, die ich mir vorgestellt hatte. Zugleich breitete sich ein widerlicher Gestank im Raum aus, eine Mischung aus verfaulten Eiern und verbranntem Fleisch. Dazu ertönte rund um mich herum ein Heulen, das leise begann und sich mehr und mehr steigerte.
Der dunkle Fleck breitete sich in Windeseile über der gesamten Platte aus. Ich brach den Regenzauber ab. Von der Seite vernahm ich einen hohen Ton, der auf- und abstieg und nach wenigen Sekunden verstummte. Ich wollte mich gerade zu Lothar umdrehen, als ich bemerkte, dass sich in der dunklen Wolke etwas bewegte. Es machte den Eindruck, als sei irgendetwas darin gefangen und versuche, mit aller Macht herauszukommen. Immer wieder beulte sich die Wolke an verschiedenen Stellen aus. Ein dumpfes Knurren drang zu uns heraus. Und dann blieb mir fast das Herz stehen.
Eine scharfe Kralle zerfetzte die schwarze Hülle, und durch den Riss stürzte ein haariger Klumpen auf die Kante der
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