ePub: Der letzte Zauberlehrling
Eisenbahnplatte und von dort auf den Boden. Ein schriller Schrei ertönte. Ich hatte das Gefühl, mein Schädel würde zerplatzen, und presste mir die Hände gegen die Ohren. Lothar starrte mit aufgerissenen Augen über meine Schulter. Das Kreischen hatte aufgehört. Ich ließ meine Arme sinken und drehte mich langsam um. Neben der Tischplatte lag ein Wesen auf dem Boden, das auf den ersten Blick wie ein ungepflegter Straßenköter aussah. Allerdings trug es nicht den gutmütigen Gesichtsausdruck der meisten streunenden Hunde, sondern die hungrige Miene eines Raubtiers.
Das Wesen war nicht viel größer als das Werhörnchen und war soeben dabei, sich aufzurichten. Ein weiterer schriller Schrei entfuhr seinem Rachen. Verzweifelt suchten meine Augen nach irgendetwas, das ich als Waffe benutzen konnte. Neben dem gusseisernen Ofen hing ein Schürhaken am Pfeiler, aber um dorthin zu gelangen, musste ich an dem Wesen vorbei, und das schien mir nicht besonders ratsam.
»Verdammt!«, fluchte Lothar. »Ein Hurwil!«
»Ein was?« Meine Hände glitten suchend hinter mir über die Platte mit der Modelleisenbahn. Ich fand einen Leitungsmast, brach ihn ab und nahm ihn in die rechte Hand. Ob er mir etwas nutzen konnte, wusste ich nicht, aber er war zumindest aus Metall und hatte eine Spitze.
»Egal. Komm her.«
»Was?«
»Komm zu mir auf den Tisch und sieh nicht hin!«
Ich setzte mich auf die Tischkante, ließ entgegen Lothars Warnung die Kreatur vor mir aber nicht aus den Augen. Das war ein Fehler. Das Wesen hatte sich aufgerichtet und blickte sich suchend um. Dabei verwandelte sich sein pelziges Äußeres in schneller Folge in einen grünlich glänzenden Schuppenpanzer, einen schwarz behaarten Spinnenkörper, eine weiße Egelhaut, ein blau schimmerndes Robbenfell und wieder zurück. Das Ganze geschah so rasant, dass mir schwindlig wurde, zumal auch der Kopf der Kreatur sich fortlaufend veränderte. Schlange, Piranha, Schakal, Ratte, ununterbrochen wechselten Form und Farbe. Lediglich die gebleckten Reißzähne blieben immer gleich.
Ich drehte den Kopf weg, zog die Beine hoch und rutschte auf der Tischplatte nach hinten. Eines nach dem anderen gingen die Modelle unter meinem Gewicht knirschend zu Bruch.
»Was ist ein Hurwil?«, keuchte ich. Lothar hatte sich inzwischen auf die gegenüberliegende Seite des Tisches geflüchtet. Der Hurwil schwankte noch ein wenig hin und her. Er hob den Kopf in die Höhe und schnupperte. Dann richteten sich seine Augen auf uns.
»Jemand, den du nicht kennen willst. Vorsicht!«
Die Mahnung war überflüssig. Der Hurwil, jetzt wieder in Gestalt des wütenden Hundes, war, obwohl immer noch benommen, mit einem großen Satz auf die Ecke des Tisches gesprungen. Ich bemerkte, dass er nicht mich anstarrte, sondern das Werhörnchen, was mir aber in diesem Moment ziemlichgleichgültig war, denn das Wesen befand sich nur eine Armlänge von mir entfernt. Der beißende Geruch, der von ihm ausging, nahm mir den Atem. Ich würgte, warf mich herum und kroch so schnell ich konnte zur gegenüberliegenden Tischseite.
Der Hurwil duckte sich und setzte zum Sprung an. Lothar packte mich am Arm und riss mich mit sich von der Tischplatte herunter. Dadurch war die Seite, auf der das Wesen hockte, plötzlich schwerer. Der Tisch, dessen Platte einen guten halben Meter über die Beine hinausragte, kippte zur Seite und das Wesen stürzte zu Boden. Bevor es sich von dem Schrecken erholen konnte, versetzte Lothar dem Tisch einen kräftigen Stoß, sodass er den Hurwil unter sich begrub.
»Der Regenzauber«, drängte er mich. »Du musst den Regenzauber rückwärts aufsagen!«
Ich sprang zur Säule neben dem Ofen und riss den Schürhaken an mich. Der Tisch bewegte sich. Das Monster war dabei, sich zu befreien. Ich stellte mich neben Lothar und hob den Haken.
»Vergiss das!«, rief er. »Sag den Regenzauber rückwärts auf! Immer wieder, egal, was passiert. Sonst macht er Hackfleisch aus uns!«
»Meinst du die Wörter oder die Buchstaben?«
»Die Wörter, du Einfaltspinsel! Red nicht, mach!«
Der Regenzauber enthielt mindestens dreißig Wörter! Wie sollte ich die fehlerfrei rückwärts auf die Reihe kriegen? Panisch versuchte ich, mich an den Text, den ich vorhin noch fehlerfrei aufsagen konnte, zu erinnern, aber mein Gehirn war wie leer gefegt. Meine Hände umklammerten den Schürhaken so fest, dass mir alle Fingermuskeln wehtaten, und meine Kehle war wie zugeschnürt.
»Worauf wartest du?«, fauchte Lothar.
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