ePub: Drachenhaut (German Edition)
der Menschen abbilden. Aufgeschnittene Körper, eigenartige Apparaturen und seltsame Symbole sind dort aufgezeichnet, Zahlen und Zeichen, die niemand entziffern kann, geheimnisvolle Worte und Beschwörungen, die Dämonen aus der Hölle und Tote aus dem Tiefen Reich an das Licht des Tages rufen können. Hu. Ich grusele mich, wenn Großvater mir davon erzählt, aber es ist ein schöner, wohliger Schauder, der mir über die Glieder läuft. Ich l iebe die Bibliothek mehr als alles andere in diesem Haus. Aber die Bücher gehorchen allein meinem Großvater, und wenn er nicht da ist, will keins von ihnen mit mir sprechen.
Der alte Beg saß reglos in einem Sessel, der mit seiner hohen Lehne an einen Thron erinnerte. Er beobachtete unter gesenkten Lidern das Mädchen, das mit zögernden, tastenden Schritten durch die dunklen Regalgänge auf ihn zukam. Sie sah ihn nicht, und er betrachtete sie so prüfend und kalt, wie man eine Fremde anschaut. Sie war nicht groß gewachsen, aber schlank und von zierlichem Körperbau. Ihre Bewegungen waren anmutig, ihre Haltung stolz. Das Haar, so dunkel, dass nur der gedämpfte Schimmer der Öllampe anzeigte, wo ihr Kopf aufhörte und der Schatten begann, glänzte wie Seide. War es nicht so, dass sie trotz ihrer dunklen Farben ganz und gar wie eine Sardari erschien? Jeder in diesem Haus achtete sie als Enkelin des Begs von Mohor und entfernte Verwandte des Shâyas, der über diesen Weltkreis herrschte.
Shâya Faridun, der Unersättliche. Lilya durfte ihm und seinen Magiya um keinen Preis in die Hände fallen.
Sie wandte den Kopf, als hätte jemand ihren Namen gerufen. Der Blick ihres unverhüllten Auges fiel auf den reglos Sitzenden, glitt über ihn hinweg. Der alte Beg lächelte. Seine Kräfte mochten im Schwinden begriffen sein wie die des abnehmenden Mondes, aber noch rann ihr langsam erkaltendes Feuer durch seine Adern, noch beherrschte er die dunklen Künste wie kein Zweiter in dieser Stadt.
Wieder drehte das Mädchen den Kopf, wieder wandte sie ihr Gesicht dem alten Mann zu. Ihr Schleier wehte in der Bewegung beiseite, und das versehrte, im Zwielicht trüb schimmernde Auge richtete sich auf ihn.
»Großvater«, sagte sie. »Ich habe dich nicht gesehen.«
Seine Brust hob sich in einem langen Atemzug. Er bewegte unmerklich die Finger, hob den Bann auf, der ihn vor ungeübten Augen verbarg. Nein, die Magiya des Königs durften ihre gierigen Hände nicht auf dieses Mädchen legen! Sie war sein, und er hatte in den letzten Jahren einen großen Teil seiner Zeit und Kraft in ihre Erziehung und Veredelung gesteckt. Kein Fremder sollte daraus Nutzen ziehen.
»Lilya«, sagte er leise ihren Namen. »Komm zu mir.«
Er weidete sich an ihrem Anblick, als sie nun auf ihn zueilte, lächelte, die Hände nach ihm ausstreckte. Das helle, fließende Gewand aus zartem Seidenstoff, das sie über der schmal geschnittenen, rosenfarbenen Hose trug, die zierlichen, bestickten Pantöffelchen, der wehende Schleier, der ihr vom Kopf auf die Schultern glitt, während sie sich zu seinen Füßen auf dem samtbezogenen Hocker niederließ, die leise klimpernden Armreifen aus Gold, Silber und Kupfer ‒ ihre ganze Erscheinung und Haltung erinnerte ihn an die Peris, die Feen, die er in seiner Jugend im Steinernen Wald gesehen hatte.
»Meine Lilya«, sagte er und zog sie an sein Herz, um sie auf die Stirn zu küssen. »Wie befindest du dich?«
»Es geht mir gut, Großvater«, sagte sie. Ihre Augen, das strahlend grüne und das verschleierte, musterten ihn eindringlich. »Mein lieber Baba, du siehst müde aus. Bin ich dir keine Last?«
Er verneinte und erhob sich. Seine Hand lag schwer auf LilyasSchulter. Hochgewachsen und etwas gebeugt stand er da, das eisengraue Haar mit einer bestickten Kappe bedeckt und den eckig geschnittenen, weißen Bart sauber gekämmt. Seit Lilya denken konnte, trug er immer nur dunkle Kleidung; meist einen langen, weiten Mantel mit goldener und silberner Stickerei über einer strengen Hose und hochgeschlossenen Jacke. Heute aber war er in ein weich fallendes, langes Hemdgewand gekleidet und hatte seinen Mantel nur nachlässig über die Schultern geworfen. »Gehen wir in mein Studierzimmer«, sagte er. »Ich habe die Bücher schon herausgesucht, die ich dir geben wollte.«
Während sie langsam zu der gewundenen Treppe gingen, die aus der Bibliothek in die oberen Geschosse des Hauses führte, die der Beg allein bewohnte, fragte er: »Hat dein Schlaf sich verbessert, seit ich dir die
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