ePub: Drachenhaut (German Edition)
Kinderfrau schien nicht damit gerechnet zu haben, Lilya noch einmal wiederzusehen.
Endlich wandte sich Ajja um und ihr dunkles Gesicht war gefasst und ihre Augen trocken. »Bist du es wirklich, mein Täubchen?«, fragte sie. »Oder narrt mich nur ein Traum, wie schon so oft, und ich werde weinen, wenn ich erwache?«
Lilya schluckte. Sie beugte sich vor und nahm Ajja in die Arme. »Ich bin es«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Ich lebe und es geht mir gut.«
Die Kinderfrau stand eine Weile wie erstarrt, dann hob sie ihre Arme und erwiderte die Umarmung so vorsichtig, als befürchte sie, dass Lilya sich in Luft auflösen würde.
Als das nicht geschah, seufzte Ajja und drückte Lilya fest an sich. »Du bist es wirklich, mein Honigtröpfchen, mein kleiner Vogel. Du hast dich so verändert. Bist du gewachsen?«
Lilya lächelte unter Tränen. »Nein, meine Ajjaja«, erwiderte sie.
Die Kinderfrau musterte sie eindringlich. »Diese scheußliche Bemalung in deinem hübschen Gesicht«, sagte sie missbilligend. »Du siehst aus wie eins dieser Wüstenmädchen.«
Lilya nickte. »Das bin ich doch auch, Ajja.«
Ajja schüttelte sich. »Du bist die Enkelin ...«, begann sie und verstummte mit einem unglücklichen Brummen. Anscheinend begriff sie gerade, dass da etwas nicht stimmen konnte.
»Was hat der Beg euch erzählt?«, fragte Lilya ruhig.
Ajja seufzte und rang die Hände. »Er sagte, du seist plötzlich von einem heftigen Fieber niedergeworfen worden. Die Leibärzte des Königs hätten sich um dich bemüht, aber du wärest innerhalb von wenigen Stunden dahingesiecht und gestorben.« Sie schluchzte und wischte sich über die Augen. »Ich habe mir wochenlang die Augen ausgeweint«, sagte sie. »Mein Täubchen, meine kleine Lilya.« Sie schnüffelte und zog ein Tüchlein aus dem Ärmel, mit dem sie sich die Nase putzte.
»Er hat gelogen, Ajja«, sagte Lilya ruhig. »Nicht nur, was meinen angeblichen Tod betrifft. Ich bin auch nicht seine Enkelin.«
Ajja hörte auf, leise zu schniefen, und sah Lilya verblüfft an. »Aber wer sollst du denn sonst sein?«
»Ich habe meine Familie in der Wüste gefunden«, sagte Lilya. »Ich bin eine Freie, genau wie du. Und ich bin gekommen, um dich mit mir zu nehmen. Ich bringe dich von hier fort, zu meiner Familie.«
Sie hatte alles Mögliche erwartet: Unglauben und endlich Erleichterung, Hoffnung und einen freudigen Ausruf, eine Flut von Tränen, auch furchtsame Einwände, dass das Unterfangen zu gefährlich sei. Was sie nicht erwartet hatte, war, dass Ajja sich aufrichtete, ihr Gewand glatt strich und voller Würde und Trauer »Nein« sagte.
»Nein?«, wiederholte Lilya, die ihren Ohren nicht traute.
Ajja schüttelte den Kopf. »Ich gehe nicht zurück in die schreckliche Wüste«, erklärte sie. »Was soll ich dort? In einer schmutzigen Hütte leben und den ganzen Tag nutzlos herumsitzen?« Sie griff nach Lilyas Hand und drückte sie an ihr Herz. »Du bist so groß geworden, mein Rosenblättchen. Du brauchst deine Ajja nicht mehr.Aber die kleine Gulbadan hat ihre Ajja noch nötig und ihre liebe Mama auch, die Arme. Sie hatte so eine schwere Geburt.«
Lilya war sprachlos. Sie tastete nach der Sitzfläche des Hockers, der neben ihr stand, und ließ sich darauf niedersinken. Ein seltsames Gefühl kitzelte in ihrer Kehle und stieg durch die Nase empor. Lilya schnaubte und begann zu lachen. »Tante Gulzars Tochter?«, fragte sie glucksend und deutete auf die Wiege.
Ajja nickte so stolz, als wäre das Kind ihr eigenes. Sie begann davon zu erzählen, was das Kindchen für ein schönes, liebes, kluges und außergewöhnliches Mädchen sei, und hörte für längere Zeit nicht mehr auf. Lilya nickte und sah ihre alte Amme voller Zuneigung an. Ajja war glücklich, und sie diente nun Gulzar, die als Einzige immer freundlich zu Lilya gewesen war. Vielleicht war es nun wirklich gut.
Lilya stand auf und küsste Ajja auf die Stirn. »Ich gehe nun«, sagte sie. »Und ich freue mich, dass du ein Kindchen hast, für das du sorgen kannst, meine Ajjaja.«
Tränen liefen über das dunkle Gesicht der Amme, aber sie lächelte. »Wir werden uns bestimmt wiedersehen«, sagte sie hoffnungsvoll.
Lilya, die sich dessen gar nicht sicher war, nickte mit gespielter Zuversicht. »Das werden wir. Du musst mir doch erzählen, wie die kleine Gulbadan sich macht.«
Sie stand eine Weile gedankenverloren am Kopf der wenig benutzten hinteren Treppe. Ajja war glücklich. Sie hatte sich gefreut, dass ihre Lilya noch am
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