ePub: Drachenhaut (German Edition)
Finger, ihre Haut. Kein Fell. Keine dunklen Flecken auf goldenem Grund. Keine Krallen an den samtdicken Tatzen. Sie war ein Mensch, keine Raubkatze. Ein Mensch. Niemand jagte sie. Keine Meute stellte ihr nach. Kein Bruder, keine Schwester war in dieser Nacht schreiend gestorben.
Mit einem bebenden Seufzen ließ sie sich auf ihr Kissen zurücksinken und schlief ein.
W ÜNSCHE
Zwei volle Monde sind vergangen, seit ich mit einem Arm voller Bücher von meinem Großvater fortging. Seitdem hat er mich nicht mehr zu sich geholt, und Ajja hat mir erzählt, dass er zum Serail berufen wurde, weil der Shâya seinen Rat wünschte. Dergleichen ist auch früher schon geschehen, aber so lange wie dieses Mal war er noch nie fort.
Ich vermisse jemanden, mit dem ich reden kann. Natürlich ist da Ajja, aber mit der kann man sich nicht unterhalten, weil sie immer nur lieb und aufgeregt und schrecklich besorgt ist. Sie fürchtet ganz bestimmt, ich könnte mir den Kopf verrenken, wenn ich nachdenke. Deshalb war es gut, dass ich den Jungen, Yani, getroffen habe.
Er stahl sich nach unserer ersten Begegnung nun immer nachts in den Hof, wenn er die Küche gesäubert hatte, und dann rief er wie die schwarze Eule. Wenn ich seinen Ruf hörte, lief ich in den Küchenhof und wir setzten uns in den Winkel hinter die Abfälle. Es stinkt dort ganz fürchterlich, und deshalb kommt niemals jemand dorthin, außer er bringt Abfälle weg. Nachts ist es dort still und ‒ nun ja, übel riechend.
Vor ein paar Tagen bin ich dann im Dunkeln auf einen Fisch k opf getreten und habe mich beinahe übergeben müssen. Yani hat so schrecklich gelacht, dass er auf den Boden gefallen ist und sich in zwei faulende Kohlköpfe gesetzt hat. Wir haben beide wirklich entsetzlich gerochen, und ich habe aus meinem Zimmer die feine Rosenseife geholt, die Tante Gulzar mir geschenkt hat.
Dann haben wir uns unter der Pumpe gewaschen ‒ aber das darfst du nie, niemals jemandem erzählen, Seelenbruder, hörst du?
Danach haben wir uns nicht wieder im Hof getroffen, sondern er ist zu mir hinaufgekommen. Wir waren anfangs ein wenig in Sorge, denn wenn man ihn in meinem Zimmer gefunden hätte, wäre er sicherlich hart bestraft worden. Aber dann habe ich ihn beruhigt und ihm gesagt, dass niemals jemand so spät meine Räume aufsucht, außer vielleicht Ajja ‒ und ihr würde ich dann einfach verbieten, ihn zu verraten.
Yani hat mir von seinem Dorf erzählt. Ich finde es nicht richtig, dass Menschen aus ihren Häusern geholt und auf den Sklavenmarkt gebracht werden ‒ selbst wenn es Wüstenleute sind. Sie haben auch Eltern und Geschwister und Freunde, die sie vermissen.
Aber woher sonst sollen wir all die Sklaven nehmen, die wir doch brauchen, damit jemand die Arbeit tut? Soll etwa Tante Gulzar die stinkenden Abfälle hinausbringen? Man stelle sich das einmal vor: die zarte, schöne Tante Gulzar mit den weißen Händen und den kleinen Füßen. Nein, Seelenbruder, es geht wohl nicht anders. Aber trotzdem ... Yani tut mir leid. Er beklagt sich nicht und er jammert auch nicht, er lacht und ist vergnügt, aber ich kann sehen, dass er manchmal auch traurig ist und seine Familie vermisst.
Er sagt, dass er einen älteren Bruder hat, der wahrscheinlich noch in Freiheit lebt, weil er zu seiner Frau in ein anderes Dorf gezogen i st. Yani hofft sehr, dass die Sklavenjäger dieses Dorf verschont haben. Ich wünsche es ihm so sehr.
Was meinst du, Seelenbruder, kann ich Yani helfen? Soll ich Großvater bitten, ihn freizulassen?
Lilya traf sich beinahe jeden Abend mit dem Jungen Yani. Sie hatten beide jede Scheu und jeden Vorbehalt abgelegt und flüsterten und lachten miteinander, als wären sie zusammen aufgewachsen.
Yani hockte mit untergeschlagenen Beinen auf Lilyas Bett und blätterte in einem von Kobads Büchern. Lilya war erstaunt gewesen, als sie feststellte, dass Yani ein wenig lesen und sogar seinen Namen schreiben konnte. Er las ihr stockend, aber nach ein paar Tagen immer flüssiger aus den Büchern vor, und Lilya genoss es, ihre brennenden Augen ausruhen zu können und seiner Stimme zu lauschen.
An manchen Abenden aber mochte er nicht vorlesen. Lilya sah es ihm immer schon an, wenn er zu ihr ins Zimmer kam. An diesen Abenden ließen seine Augen den lachenden Ausdruck vermissen und sein Gesicht war ernst und ein wenig verbissen.
Dann zog sie ihn neben sich auf den Diwan, nahm seine Hand in ihre und ließ ihn von seinem Dorf erzählen. Von seiner Familie, von den beiden
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