ePub: Juniper Berry
sich ihre Nasen beinahe berührten. Mrs. Berry fletschte die Zähne, ihre Nasenflügel waren gebläht und ihre Augen schwarz. Dann sagte sie mit unnatürlich dunkler Stimme: »Ich habe endlich, was ich wollte. Und ich werde es mir nicht wieder wegnehmen lassen.«
Sie zerrte Juniper aus dem Raum und ins Wohnzimmer zu Mrs. Maybelline.
Hustend, beinahe würgend ging Mrs. Berry zurück nach oben. Ihre Schritte waren seltsam ruckartig. Von ihren früher so anmutigen Bewegungen war nichts mehr übrig geblieben. Sie wirkte jetzt irgendwie kleiner, ein wenig gekrümmt und buckelig.
Juniper wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich neben ihre Lehrerin. Was blieb ihr anderes übrig?
»Deine Mutter hat doch gerade tatsächlich mit mir geredet!« Mrs. Maybellines Augen waren vor Begeisterung weit aufgerissen. »Sie sagte: ›Sie. Warten Sie hier. Ich hole sie.‹ Es war wunderbar, einfach nur in ihrer Nähe zu sein. Ich hab keinen einzigen Ton herausbekommen. Wahrscheinlich hab ich mich völlig lächerlich gemacht.«
»Kam sie Ihnen normal vor?«, fragte Juniper.
Obwohl ihre Hauslehrer natürlich potenzielle Gesprächspartner waren, baute sie keine besonders enge Bindung mehr zu ihnen auf. Sie blieben nie besonders lange. Ihre Eltern fanden immer einen Grund, sie wieder loszuwerden, trotz der Schweigeklausel, die alle Angestellten unterschreiben mussten.
»Normal? Oh nein, auf keinen Fall! Deine Mutter ist alles andere als normal. Genauso wie dein Vater.«
Juniper setzte sich auf. »Tatsächlich?«
»Auf jeden Fall. Ich meine, sie … sie sind Stars!« Mrs. Maybellines starrer Blick war voller Ehrfurcht. Sie konnte nicht einmal blinzeln.
Juniper seufzte. »Was steht heute auf dem Stundenplan?«
»Eines Tages könntest du auch so sein wie sie. Du hast eine Menge Talent, Juniper, das sehe ich. Du schreibst erstklassig. Wirklich erstklassig. Und mit den Verbindungen deiner Eltern …«
»Ich will aber nicht berühmt sein. Und ich will auch nicht, dass meine Eltern berühmt sind.«
Mrs. Maybelline wurde beinahe hysterisch. Sie prustete los, sodass ihr ganzer pummeliger Körper wackelte und ihre Wangen rot anliefen, als das Blut durch ihre Adern schoss. »Kinder!«, lachte sie. »Man muss sie einfach gern haben!« Sie kicherte weiter und ihr ballonartiger Bauch hüpfte vor Vergnügen. Juniper konnte den Blick nicht abwenden. Was für ein Anblick! Mrs. Maybelline hatte recht, sie sah in ihren Eltern nur die Stars.
Aber dann hörte die Lehrerin plötzlich auf zu lachen. Sie verstummte von einer Sekunde auf die andere. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. »Oh mein Gott!«, flüsterte sie und deutete auf den Flur hinaus. »Da ist dein Vater! Nicht zu fassen!«
Juniper drehte sich um und sah ihren Vater, der aus dem Fenster schaute, genau wie gestern im Arbeitszimmer. Er war völlig versunken und rührte sich nicht. Juniper wusste, was man durch dieses Fenster sah, sie hatte schon oft mit ihrem Monokular hindurchgeschaut. Von dort hatte man einen ungehinderten Blick direkt in den Wald hinein.
Mr. Berry sah weiter hinaus, während seine Hand nach etwas zu greifen versuchte, das nicht existierte.
Mrs. Maybelline fand sein Verhalten ganz und gar nicht merkwürdig. »Er ist so verträumt«, schwärmte sie. »Juniper, du bist das glücklichste Mädchen der Welt, ich schwör’s dir! Mit solchen Eltern …«
»Mrs. Maybelline?«
Keine Antwort.
»Mrs. Maybelline?!«
»Äh … was? Ja, bitte?«
»Gibt es … gibt es etwas da draußen …« Juniper nickte zum Fenster hinüber. »Gibt es etwas, das einen in einen völlig neuen Menschen verwandeln kann? Etwas, das einen so werden lässt wie meine Eltern?«
Mrs. Maybelline war immer noch in den Anblick von Junipers Vater vertieft, doch sie antwortete mit sehnsüchtiger Stimme. »Ich hoffe es. Und was immer es ist – ich will es haben!«
Während des gesamten Unterrichts verließ Mr. Berry kein einziges Mal seinen Platz am Fenster.
Als Juniper alle Aufgaben zu Mrs. Maybellines Zufriedenheit erledigt hatte und ihre Eltern sich auf den Weg zu ihren Proben machten, kletterte sie aufs Dach. Sie lag auf dem Bauch und ließ die Zeit verrinnen, während sie gespannt auf Giles und den Beginn ihrer Expedition wartete. Die Sonne knallte auf das schwarze Dach und wärmte ihr den Rücken, während sie die langsam vergehenden Minuten damit verbrachte, mit ihrem Fernglas die Leute vor dem Tor zu betrachten. Das war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.
Die Menschen
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