Er sieht dich wenn du schläfst
einen Herzanfall bekommen.
Ich will nicht lange bleiben, schwor er sich, als Nor in ihrer
Tasche nach dem Hausschlüssel suchte, aus dem Wagen stieg
und sich die Reservierungsbücher unter den Arm klemmte.
Sterling ging zur Haustür und bewunderte die reizvollen
Sträucher, die mit einer leichten Schneeschicht bedeckt waren.
Sobald Nor die Tür geöffnet, die Alarmanlage ausgeschaltet
und das Licht angeknipst hatte, erkannte er, dass sie außerdem
noch einen guten Geschmack hatte. Das Parterre war ein einziger, großer Raum mit weißen Wänden und Holzfußboden. Ein
höher gelegter Kamin bestimmte den Wohnzimmerbereich. Im
rechten Winkel dazu stand ein Weihnachtsbaum in Zimmerhöhe, geschmückt mit elektrischen Lichterketten. Die drei unteren
Etagen des Baums trugen eindeutig Marissas Handschrift. Gebastelte Papiersterne, viel Lametta und Naschwerk zeigten, wie
sie sich einen richtigen Weihnachtsbaum vorstellte.
Bequeme Sofas, große persische Teppiche, feine antike Möbel
und erstklassige Gemälde waren auf den übrigen Raum verteilt.
Das Ganze strahlte lebhafte Gelassenheit aus – wenn es so etwas
gibt, dachte Sterling.
»Eine Tasse Kakao«, murmelte Nor, als sie die Schuhe von
sich schleuderte. Sie ging in die Küche, ließ die Reservierungsbücher auf den Tisch fallen und öffnete den Kühlschrank. Obwohl er sich nicht gern beeilte, huschte Sterling von einem Gemälde zum nächsten. Die sind wertvoll, dachte er. Ich wünschte,
ich hätte die Zeit, um sie genauer zu betrachten. Eine englische
Jagdszene hatte es ihm besonders angetan.
Als Anwalt einer Reihe von Familienunternehmen hatte er zu
Lebzeiten ein Auge für gute Kunst entwickelt. Es hieß immer,
ich wäre auch ein ausgezeichneter Gutachter gewesen, erinnerte
sich Sterling.
Eine Treppe, die in den ersten Stock führte, zog ihn magisch an.
Nur ein kurzer Blick, dann verschwinde ich wieder, schwor er sich.
Nors Schlafzimmer war der größte Raum. Auf der Kommode,
dem Frisiertisch und auf den Nachttischen standen gerahmte
Fotos. Es waren ausnahmslos persönliche Erinnerungen, und die
meisten zeigten eine wesentlich jüngere Nor mit Billys Vater.
Auf mindestens sechs Bildern war Billy mit seinen Eltern zu
sehen, das erste aus seiner frühen Kindheit. Auf dem letzten, das
alle drei zeigte, war er etwa sechs Jahre alt.
Sterling streckte den Kopf ins erste der beiden anderen
Schlafzimmer. Es war klein, aber gemütlich und hatte das aufgeräumte Flair eines Gästezimmers.
Die dritte Tür war zu. Auf einem kleinen Porzellanschild hieß
es, HIER WOHNT MARISSA. Als er die Tür öffnete, schnürte
es Sterling die Kehle zu. Dieses Kind wird im kommenden Jahr
so viel verlieren, dachte er.
Der Raum war bezaubernd. Weiße Rattanmöbel. Blauweiße
Tapeten. Weiße Decke mit Lochstickerei auf dem Bett und ebensolche Vorhänge. Bücherregale an der einen Wand. Ein Pult
mit Pinnbrett an der anderen.
Er hörte, wie Nor die Treppe heraufkam. Es war Zeit zu gehen. Als ihm einfiel, dass die Tür geschlossen gewesen war, zog
er sie leise hinter sich zu. Dann sah er, dass Nor in ihrem
Schlafzimmer verschwand. Kurz darauf ging Sterling mit flotten
Schritten die Straße hinunter, den Mantelkragen hochgeschlagen, den Homburg so weit wie möglich ins Gesicht gezogen.
Ich muss ein paar Stunden totschlagen, dachte er. Billy schläft
wahrscheinlich. Vielleicht schaue ich kurz bei Marissa vorbei.
Aber wo wohnt sie genau? Ich konnte mich nie besonders gut
orientieren.
Bisher war so viel los gewesen, dass er beschäftigt war, doch
jetzt, da alle zu Bett gegangen waren, fühlte er sich ein wenig
einsam, während er durch die stillen Straßen trottete.
Soll ich versuchen, Kontakt mit dem Himmlischen Rat aufzunehmen? Oder beschließen sie dann, dass ich für den Job nicht
geeignet bin? Und wenn ja, was dann?
Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge.
Was ist das?
Ein Stück Papier flatterte vom Himmel. Direkt vor ihm blieb
es in der Luft stehen. Sterling packte es, faltete es auseinander
und trat unter die nächste Straßenlaterne, um es zu lesen.
Es war ein Stadtplan, auf dem deutlich gekennzeichnet war,
wo Marissa und Nor wohnten. Eine gestrichelte Linie begann an
dem Punkt, an dem stand: »Sie befinden sich hier.« Dann folgten genaue Anweisungen – »vier Blocks nach Osten… dann
einen Block nach links, dann rechts« –, die den Weg zu Marissa
beschrieben. Eine zweite gepunktete Linie zeigte den Weg von
dort zum Restaurant zurück.
Sterling schaute nach oben,
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