Er war ein Mann Gottes
Ich glaube, ich wollte bloß mit ihm gehen, um zu beweisen, dass ich, ausgerechnet ich, ihn »haben« könne.
Wie ich das fertigbrachte, weiß ich nicht mehr, aber am Ende ging ich tatsächlich für zwei triumphale Tage lang Händchen haltend mit ihm über den Schulhof. Somit hatte ich erfolgreich bewiesen, dass ich alle anderen Mädchen bei ihm ausstechen konnte. Dass ich, nicht etwa er, nach diesen zwei Tagen »Schluss machte«, steigerte meinen Nimbus noch.
Die Macht der Cliquen-Anführerin hingegen erhielt durch diesen erfolgreichen Widerstand einen gehörigen Dämpfer, was sie mir zur erbitterten Feindin machte.
Obwohl ich äußerlich cool wirkte, zermürbte mich der sowohl in der Schule als auch zu Hause anhaltende Dauerkampf um Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zugehörigkeit. Oft saß ich weinend allein. Doch wenn ich Rat oder Trost bei meiner Mutter suchte, hieß es allenfalls: »Stell dich nicht so an. Das ist halt so. Im Leben wird einem nichts geschenkt. Besser, du lernst das früh, dann brauchst du’s später nicht mehr lernen.«
Ihre kalte, abweisende Art tat mir unendlich weh. Irgendwann konnte ich deshalb nur noch an Flucht und Fortlaufen denken und beschloss, von daheim zu verschwinden, indem ich die Schule wechseln und in ein Internat gehen würde.
Während der Phase, in der ich mich zu diesem Entschluss durchrang, hatte ich mir glühend gewünscht, dass Frederic mir dringend abraten und meine Eltern die Fassung verlieren würden. Meine Mutter, hoffte ich, würde weinen, mein Vater kreidebleich werden. Beide würden flehen: »Bleib doch. Du bist unser einziges Kind. Verlass uns nicht!«
Wie ich darauf reagieren wollte, hing an dieser Stelle meiner Träume von der jeweiligen Tagesform ab.
Doch als es so weit war und ich meinen Eltern meinen Wunsch eröffnete, wandten sie nichts dagegen ein, sondern fanden sogar eine Fülle Argumente, die für ein Internat sprachen. Wie es schien, wollten sie mich los sein und freuten sich daran F.
Wie hatte ich nur so dumm sein können, etwas anderes zu erwarten?
Als hätte er sich mit ihnen abgesprochen, brachte Frederic fast die gleichen Argumente wie sie vor. Keine Spur von Bedauern auch bei ihm. Ich würde ja Ministrantin bleiben, würde bloß auf die zusätzlichen Kirchgänge vor der Schule verzichten müssen. Und wann immer ich daheim sei, könne ich ja weiterhin zu ihm kommen. Ich wisse doch, er sei für mich da. Enttäuscht und trotzig weinte ich mir in der Heimlichkeit meines Zimmers die Augen aus.
Wenig später zog ich in der neuen Schule ein — es war einfach nur grauenhaft. Ich fand keinen Anschluss in der Klasse, wurde ausgegrenzt und gemobbt. Ob die anderen miteinander lachten, witzelten oder stritten, ich gehörte nicht dazu. Im Unterricht kam ich zum Teil nicht mit, weil die Klasse andere Stoffe durchgenommen hatte als ich in meiner alten Schule. In anderen Fächern war ich der neuen Klasse voraus. Beides trug mir Spott bei meinen neuen Mitschülern ein. Kein Lehrer lobte mich, wenn ich etwas konnte. Aber machte ich Fehler, regnete es Tadel.
Einsam, unglücklich, unwillkommen verging mir mit der Freude am Leben auch der Appetit. Ich »vergaß« das Essen und landete mit der Diagnose »Verdacht auf Magersucht« im Krankenhaus.
Meine Eltern reagierten vollkommen entsetzt. Während mein Vater sich über die Schule aufregte, hielt meine Mutter mich weinend in den Armen und gestand mir zum ersten Mal ein, wie schmerzlich sie mich die ganze Zeit vermisst und wie große Sehnsucht sie nach mir gehabt habe. Ich konnte es nicht glauben, als sie mich bat, doch um Gottes willen wieder nach Hause zu kommen. Ich wurde geliebt! Es war ein einzigartiges Erlebnis für mich, dies mit zärtlichsten Umarmungen und liebevollen Worten von ihr gezeigt und gesagt zu bekommen.
Keine Frage, dass ich am liebsten noch am gleichen Tag nach Hause mitgekommen wäre. Doch musste die Internatsverwaltung ihre Zustimmung geben, und die wollte mich natürlich keinesfalls vorzeitig aus dem Schulvertrag entlassen, der bares Geld bedeutete. Wie mein Vater es deichselte, dass das Krankenhaus mir ein Attest mit dem Befund »Gefährdet an Magersucht zu erkranken« ausstellte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall genügte diese Diagnose, den Schulvertrag aus Gründen des Kindeswohls aufzuheben und mir die Heimkehr zu sichern.
Ich weiß noch sehr gut, wie glücklich mich die sichtbare und fühlbare Freude meiner Eltern machte, als ich wieder bei ihnen war, und wie viel Kraft es mir
Weitere Kostenlose Bücher