Er war ein Mann Gottes
seinem Dasein für mich.
Es war viel mehr als Schwärmerei. Geschwärmt habe ich für Stars und Sternchen. Er war der ganze Sternenhimmel für mich. Frederic gab meinem so seltsam sinnleeren Leben erstmals und zunehmend ein Ziel.
»Gott«, dachte ich, »ist das Ziel«, als ich, eine frisch gebackene Ministrantin, zum ersten Mal um sechs Uhr morgens zum kirchlichen Frühdienst ging. An Frederic als mein Ziel zu denken, hätte ich gar nicht gewagt. Er als Priester stand ja himmelhoch über mir und allen Menschen.
Die Teilnahme am Frühdienst war natürlich freiwillig. Doch für mich gab es kein Zögern. Von der ersten Minute an, als meine damalige Freundin Tessa, die schon zwei Jahre älter war, mich fragte, ob ich auch in die Frühmesse gehen würde, stand mein Entschluss fest. Meine Eltern habe ich nicht einmal um Erlaubnis gefragt, sondern stellte sie vor vollendete Tatsachen.
Ich war stolz auf mein kirchliches Amt. Es machte mich würdig, direkt hinter unserem Vikar in die Kirche einzuziehen und ihm als Helferin zur Seite zu stehen. Niemals hätte ich der ganzen Gemeinde besser demonstrieren können, wie »richtig« ich war. Zu keinem anderen Zeitpunkt las ich mehr Stolz in den Gesichtern meiner Eltern.
Am liebsten hätte ich das Ministrantengewand ständig und auf offener Straße getragen. Es bestand aus einem Talar als Untergewand, welches je nach der liturgischen Tagesfarbe variierte. Am schönsten fand ich den roten Talar, der immer dann zum Einsatz kam, wenn die liturgische Tagesfarbe weiß war.
Über dem Talar trugen wir stets das fein gefältelte und am Saum mit einer breiten Spitzenbordüre geschmückte weiße Obergewand, das an ein Taufkleid erinnern sollte. Es wurde Rochett genannt und durch einen Kragen, die Mozetta, ergänzt. Die Farbe des Kragens hatte mit der Farbe des Talars übereinzustimmen.
Zur Erinnerung an das Kreuz Christi, das wir als Ministrantinnen und Ministranten symbolisch mittragen sollten, hatte Frederic jedem neuen Gruppenmitglied und also auch uns Mädchen ein ziemlich großes Holzkreuz geschenkt, das wir beim Ministrantendienst an einer Lederschnur um den Hals tragen mussten.
Trotz meiner Begeisterung für den Ministrantendienst und meiner frommen Zielsetzung muss ich in der Rückschau gestehen, dass ich in Gedanken freilich kaum bei Gott war, wenn ich zur Kirche eilte. Damals machte ich mir das nicht so klar, weil in meinem kindlichen Gemüt unser neuer Vikar, Gott Vater im Himmel und die Kirche für mich eins waren. Trotzdem sehe ich jetzt, dass in Wahrheit einzig und allein Frederic Pfeiffer mein Ziel war, der einzige Mensch, der mich ganz und gar in meinem inneren, für andere unsichtbaren Richtigsein anzunehmen schien.
Der Seelenfänger
Nicht, dass Jungen meines Alters oder ältere Jugendliche mich links hätten liegen lassen. Ich war für mein Alter groß, sehr schlank und trotzdem gut entwickelt, hatte dickes, schulterlanges blondes Haar, schöne Zähne und wenig Pickel. Es gab durchaus das, was wir Mädel untereinander tuschelnd und kichernd »Verehrer« nannten. Einer von ihnen umschwärmte mich seit der Grundschulzeit schweigend, aber stetig und jagte jeden in die Flucht, der mich ärgern wollte. Er war mein allseits anerkannter Bodyguard. Nur hieß er leider nicht Kevin Kostner. Und aus »Jungs« machte ich mir nun mal nichts. Von klein auf zogen mich Menschen magisch an, mit denen ich ernsthaft reden konnte.
Als Erstklässlerin hatte ich beispielsweise für meinen Lehrer geschwärmt, der mir Grenzen setzte und konsequent dafür sorgte, dass ich sie nicht straflos überschritt. Er schrie mich nicht an wie meine Mutter. Er duldete nicht alles wie mein Vater. Er blieb ruhig, wenn ich meine häuslichen Trotzanfälle im Klassenzimmer vorführte und fragte mich anschließend, warum ich mich so aufgeführt hätte. Dabei ließ er mich nicht mit einem Schulterzucken, einem »Weiß nicht!« davonkommen, sondern verlangte ernst zu nehmende Antworten. Ich musste überlegen, Worte finden für den Überdruck in meiner Seele. Er hörte mich an, diskutierte mit mir und leitete mich an, eigene Lösungen für mein Problem zu finden. Diesen Lehrer verehrte ich so sehr, dass ich ihm nach dem Unterricht heimlich bis zu seinem Haus hinterherschlich, um noch länger in seiner Nähe zu sein.
Als ich die ersten Buchstaben malen konnte, schrieb ich ihm einen Zettel: »Ich liebe dich.« Den legte ich ihm an die Tafel und vergaß dann absichtlich meinen Regenschirm im Klassenzimmer,
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