Er war ein Mann Gottes
ausspricht, kann ruhig jeder für sich wissen, was geschieht. Erst das gesprochene Wort macht die Sünde ruchbar. Solange keiner darüber redet, kann jedermann so tun, als gebe es sie nicht. »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.« Das galt schon immer, auch für uns.
Wahrscheinlich sprach mein Vater aber nicht nur wegen seines eigenen Harmoniebedürfnisses über nichts Unangenehmes mit mir. Ebenso wichtig wird es ihm gewesen sein, meine Mutter vor meinen Eskapaden zu schützen.
Solange ich mich erinnern kann, war es sein wichtigstes Bestreben, alles Belastende von ihr fernzuhalten. Also schwieg er mir gegenüber, anstatt mich zur Rede zu stellen, denn etwaige Auseinandersetzungen mit mir hätte er nicht vor seiner Frau verheimlichen können. Angesichts meiner berüchtigten Wutausbrüche rechnete er wohl nicht damit, dass ich Schelte stillschweigend hingenommen hätte. Meine arme Mutter aber hatte sich schon so schrecklich über meinen Auszug ins Internat und meinen Magersuchtsanfall aufgeregt, dass mein Vater in seiner ständigen Sorge um ihre seelische Gesundheit wohl annahm, sie könne keine weiteren Hiobsbotschaften mehr verkraften.
Noch heute wünschte ich, mein Vater hätte mir wenigstens die Chance zu einem Gespräch gegeben. Ich weiß, ich wäre überglücklich und ihm ohne Ende dankbar gewesen, wenn er mir gesagt hätte, dass er sich für mich starkgemacht hatte. Ich glaube, ich wäre außer mir gewesen vor Glück. Und bestimmt hätte ich von diesem Glücksgefühl so gezehrt, dass ich endlich hätte aufhören können, alle Lehrer zu provozieren und den Klassenclown zu spielen. Stattdessen wähnte ich mich trotz meiner vielen und immer »lauteren« Hilfeschreie im Stich gelassen und musste mich weiterhin in Szene setzen, um mich beachtet zu fühlen.
Natürlich wusste ich, dass ich für mein schlechtes Benehmen die Quittung in Form schlechter Zeugnisse bekam. Ebenso klar war mir, dass schlechte Zeugnisse meine Zukunftschancen schwer beeinträchtigen würden. Dennoch hatte ich keine andere Wahl, wenn ich überleben wollte. Entweder, so viel stand schon damals für mich fest, würde ich demnächst aus dem höchsten Stockwerk unseres Ortes springen, um diesem Leben als ungewolltes Kind ein Ende zu machen, oder ich musste mich an denen rächen, die mich nicht wollten, indem ich ihnen zeigte, dass ich sie selbst und ihre blöde Ordnung, ihre Regeln und Vorschriften noch viel weniger wollte, geschweige denn brauchte.
»Enfant terrible« titulierte mein Französischlehrer mich, als er mich in der ersten Stunde nach meiner Rückkehr wieder unterrichten musste. Das gefiel mir. Sollte er mich doch hassen, wenn er mich schon nicht liebte. Immerhin nahm er mich wahr.
Frederic, Ziel meines Lebens
Unser Vikar Frederic Pfeiffer schien sich ganz besonders über meine Rückkehr an die alte Schule zu freuen. An einem der ersten Abende nach meiner Heimkehr war er bei meinen Eltern zu Gast. Zu meinem Ärger hatte meine Mutter ihm sofort erzählt, dass ich immer besonders gut essen müsse, da ich im Verdacht auf Magersucht stehe. Am liebsten wäre ich tot unter den Tisch gesunken. Aber er lächelte mich nur an und meinte: »Besser ein bisschen zu schlank als viel zu dick«, und blinzelte mir zu.
Wenn ich ihn künftig in der Stadt oder im Zusammenhang mit dem Ministrantendienst sah, grüßte er mich immer ganz besonders herzlich und mit Namen. Sogar in der Schule hatte er immer noch ein »Extrasätzle« für mich parat. Das hat mich superglücklich gemacht. Dass er mich sah! Mich grüßte. Mich, zu der der eigene Vater immer wieder sagte: »Cora, du bist und bleibst halt eben irgendwie verkehrt.« Und nun kam dieser Vikar, der für alle Menschen ein Vater sein sollte, und zeigte mir, dass er mich mochte, wie ich war, vielleicht sogar noch mehr mochte als andere, mit denen er ja keine »Extrasätzle« wechselte. Obwohl er mich doch kaum kannte, schien er wie durch eine höhere Eingebung Gottes der Einzige, für den ich, die ausgeflippte Cora, das verrückte Huhn, die irgendwie verkehrte Tochter, richtig war. Es kam mir wie ein Wunder vor. Ich bin innerlich gewachsen, weil dieser Mann Gottes mich als wertvollen Menschen wahrnahm.
Von diesem Moment an war unser Vikar das Person gewordene Wunder meines Lebens. Wie ich richtig für ihn war, so war er richtig für mich.
Je klarer ich erfasste, dass er sich für mich interessierte, desto stärker verspürte ich ein Bedürfnis nach seiner Nähe, seinem Verstehen,
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