Er war ein Mann Gottes
um einen Grund zu haben, nochmals zurückgehen zu dürfen und zu sehen, ob mein Zettel entdeckt worden war und was er damit machte. Natürlich hatte er das Manöver gleich durchschaut. Aber er ließ sich nicht anmerken, dass er sich über mich amüsierte. Er lächelte mich nur an. Und ich hatte von diesem Tag an das beseligende Gefühl: »Der versteht mich, der mag mich. Der nimmt mich so an, wie ich bin.« Das hat mir unendlich gutgetan. Für diesen Lehrer hätte ich alles auf mich genommen.
Ähnlich hingebungsvoll liebte ich meinen Onkel, dem ich meine kindlichen Sorgen anvertrauen konnte, weil er mir das Gefühl vermittelte, ihn damit nicht zu belästigen oder gar zu überfordern. Kam er zu Besuch, sah er mir an, in welcher Stimmung ich war. Wirkte ich bedrückt, wütend oder traurig, setzte er sich einfach zu mir, brachte mich zum Reden, hörte mir zu und sagte nicht bloß lapidar: »So ist das halt im Leben.« Oder: »Kleine Kinder, kleine Sorgen.« Er musste mir gar keine großen Ratschläge oder Patentrezepte erteilen. Es genügte, dass er in aller Ruhe bei mir saß und einfach für mich da war.
Frederic war ähnlich wie mein Onkel oder dieser Lehrer aus Grundschultagen. Ein Mann Mitte dreißig, gut aussehend, gepflegt, selbstsicher, humorvoll, souverän und charmant, mit Augen, die mich restlos zu durchschauen schienen. Als er sein Seelenfängerlasso nach mir auswarf, konnte ich nicht fliehen. »Komm mich doch einfach im Pfarrhaus besuchen, wenn du willst.« Ich starrte ihn mit angehaltenem Atem an. Meinte er wirklich mich? Meinte er das tatsächlich ernst?
»Doch, doch.« Er begriff sofort, nickte lächelnd, legte mir, Vertrauen heischend, die Hand auf den Oberarm. Er hatte eine schmale Hand mit feinen, weichen Fingern und glänzenden Fingernägeln. Ich spürte ihren Druck sanft und doch fest, er ließ mich erschaudern.
»Ich bin für dich da«, sagte er und sah mich aus seinen graugrünen Augen an, die dunkler zu werden schienen, als ich seinen Blick zu erwidern wagte. »Wenn du mich besuchen willst, sag es mir ruhig. Trau dich einfach. Du bist doch sonst nicht so schüchtern, hab ich gehört.« Er lachte leise auf. Hatte ich bei jemand anderem schon so weiße Zähne gesehen?
»Nach der Beichte habe ich meistens etwas Zeit. Dann kannst du kommen. Du kannst mir alles bringen, was du willst. Deine Gaben, du weißt schon. Bei mir kannst du alles abladen. Alles ist willkommen. Sag nur, wann du mich brauchst.«
Ich nickte. Ich würde kommen. Sobald ich mich traute.
Es war wie ein Wunder. Er war wie ein Wunder.
Von diesem Dienstag an ging ich nicht nur zwischendurch, wenn ich rechtzeitig wach wurde, sondern regelmäßig zur Sechs-Uhr-Frühmesse. Sie begann mit einem Gottesdienst für die Jugend, den Frederic zelebrierte, und endete mit dem gemeinsamen Frühstück im Pfarrgemeindehaus. Anschließend verschwanden Frederic und ich meistens in irgendeinem der vielen Zimmer des Gemeindehauses, saßen beisammen und redeten.
Zuerst war ich in diesen Minuten mit ihm so intensiv bei mir, so ganz auf mich und ihn konzentriert, dass ich gar nicht merkte, wie unser Verhalten bei den anderen Ministrantinnen ankam. Erst als sie immer öfter spitze Bemerkungen machten, dass ich mich ja wohl tüchtig bei ihm eingeschleimt hätte, wurde mir bewusst, dass sie neidisch auf mich waren. Anstatt mich zu ärgern, freute ich mich. Sonst waren immer sie mir vorgezogen worden. Jetzt war ich an der Reihe. Es tat so gut.
Die unbekümmert fröhliche Gemeinschaft dieser Frühstücksrunde faszinierte mich, das Einzelkind aus einem Elternhaus, in dem der Zwang, die hypersensiblen Nerven meiner Mutter zu schonen, geradezu eine Sterilität des Miteinanders erzeugte.
Zwar hatte meine Mutter ihre gesundheitliche Schwäche aus der Zeit nach meiner Geburt zu Beginn meiner Einschulung ins Gymnasium überwunden, sie wurde aber weiterhin von jedermann wie mit Glacéhandschuhen angefasst, als breche sie unter der geringsten Anstrengung zusammen. Mein Vater las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und trug sie förmlich auf Händen.
Auch für mich war die absolute Rücksichtsnahme der ganzen Familie auf meine Mutter selbstverständlich geworden. Ich war es ja nicht anders gewöhnt. Sie durfte nicht aufgeregt werden. Sie durfte nichts erfahren, was sie belasten könnte. Niemand durfte in ihrer Gegenwart ein Problem ansprechen. Irgendwie empfand ich nicht mich, sondern sie als das Kind im Haus. Während sie Nachsicht und Schonung genoss, hatte
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